Warum Simon Rattle der Richtige wäre

Zum Ende der Saison dreht sich beim BR-Symphonieorchester alles um die Mariss-Jansons-Nachfolge

21.07.2020 | Stand 23.09.2023, 13:03 Uhr
Marco Frei
Energiegeladener Mozart: Simon Rattle bei der Konzertprobe mit den BR-Symphonikern in München. −Foto: Ackermann

München - Was für ein Unterschied!

Da leiten zwei Dirigenten derselben Generation Werke von Wolfgang Amadeus Mozart, und es kommen völlig andere Welten heraus. So war es jetzt, als Simon Rattle das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BR) dirigierte. Während kurz zuvor Franz Welser-Möst die "Prager Sinfonie" KV 504 mit angezogener Handbremse anging, sprudelten jetzt unter Rattle in der "Figaro"-Ouvertüre frecher Witz und Energie.

Der Brite liebt dieses Orchester ganz besonders, und das zeigte sich auch in der Corona-Pandemie. Schon im Juni, als noch kein Publikum zugelassen war, hatte Rattle mit dem BR ein Live-Stream-Konzert realisiert. Der jetzige Auftritt kam auf Wunsch von Rattle zustande. Auch diesmal war das Programm eine besondere Visitenkarte, denn: Neben Mozart gab es Gustav Mahler und französische Moderne.

Mit Magdalena Ko? ená, die Partnerin von Rattle, wurden im Gasteig die "Rückert-Lieder" Mahlers ausgestaltet: ganz ohne Larmoyanz. Die transparente Durchdringung der Farben setzte sich in Paul Dukas "Fanfare pour précéder La Péri" für Bläser fort. In der vollständigen Ballett-Musik von Maurice Ravels "Ma mère l'oie" erreichte sie einen Höhepunkt. Selten hat man die BR-Symphoniker in letzter Zeit derart befreit erlebt. Zuletzt hatte es nur Daniel Harding geschafft.

Alle drei - Rattle, Harding und Welser-Möst - stehen ganz oben auf der Liste, wenn es um die Nachfolge des verstorbenen Chefdirigenten Mariss Jansons geht. Einmal mehr wurde jetzt deutlich, warum Rattle der Richtige wäre. Denn es geht nicht nur um das Künstlerische, sondern auch um das Politische. Für die BR-Symphoniker ist es die vielleicht schwierigste Zeit in ihrer Geschichte. Schon in den letzten zwei Lebensjahren von Jansons waren die zahllosen Absagen nicht immer einfach zu bewältigen.

Mit dem Tod von Jasons brach schließlich ein starker, engagierter Fürsprecher für den neuen Konzertsaal im Werksviertel hinter dem Münchner Ostbahnhof weg, und jetzt auch noch die Corona-Pandemie. Der neue Konzertsaal wird wieder infrage gestellt. Zudem haben die nutzlosen Corona-"Hilfspakete" für Kunstschaffende klar offenbart, dass der "Kulturstaat Bayern" nicht mehr als eine hohle Phrase ist.

In dieser ohnehin schwierigen Situation hat nun auch noch BR-Intendant Ulrich Wilhelm angekündigt, dass er seinen Posten räumt. Das ist gefährlich, denn: Wilhelm hat sich stets schützend vor die BR-Klangkörper gestellt. Jetzt muss Wilhelm unbedingt einen starken Nachfolger für Jansons installieren. Ein braver, solider, erzkonservativer Kapellmeister wie Welser-Möst ist dafür ungeeignet. Der Österreicher verwaltet Ist-Zustände, aber gestaltet nicht die Zukunft.

Dagegen ist Harding künstlerisch fraglos spannend, aber: Sein schwieriger Charakter macht es nicht einfach. Er ist im Zweifel mehr mit sich selbst beschäftigt, als sich mit aller Kraft für ein Orchester einzusetzen. Für Yannick Nézet-Séguin steht wiederum Nordamerika als Lebensmittelpunkt fest. Iván Fischer möchte nur noch eigene Projekte machen, und der spannende Riccardo Chailly findet in München gar nicht statt. Es muss vor allem ein Name sein, den selbst ein Markus Söder kennt: und das ist Rattle.

Schon bei den Berliner Philharmonikern hat er Education und Erneuerung von Konzert-Formaten gewaltig vorangebracht. Auch die innovative "Digital Concert Hall" der Berliner ist faktisch Rattles Verdienst. Nicht zuletzt hat er mit dem Orchester die Moderne genauso frisch eruiert wie die Wiener Klassiker. Rattle könnte der muffigen BR-"Education" auf die Sprünge helfen.

Mit ihm gäbe es zudem spannende Synergieeffekte zwischen dem Abo-Programm und der BR-Reihe "musica viva" für neue Musik. Derzeit ist Rattle bei der London Symphony (LSO). Auch dieses Orchester liebt er, aber: Es ist kein Geheimnis, dass Rattle mit der Situation in seiner Heimat unzufrieden ist. Schon der Brexit ist für die britischen Orchester eine Katastrophe: nicht nur wirtschaftlich, sondern auch weil der Musiker-Nachwuchs aus Zentraleuropa wegbricht.

Das britische Corona-Chaos macht es nicht einfacher, und: In London wird es definitiv keinen neuen Konzertsaal geben. Das alles frustriert Rattle, und dies kann für die BR-Symphoniker eine Chance sein. Klar ist: Ein farbloser Verwalter ist in der gegenwärtigen Situation genauso gefährlich wie ein Experiment. Die BR-Symphoniker stehen derzeit mit dem Rücken zur Wand. Sie haben es auch selbst in der Hand, wie es weitergeht.

DK


Marco Frei