"Vorsprung durch Schubert?"

Perspektivwechsel: Zwei Kritiker tauschen sich online über das Eröffnungskonzert der Audi-Sommerkonzerte aus

03.07.2020 | Stand 02.12.2020, 11:03 Uhr
Konzert zwischen Audis: Schuberts "Forellenquintett" konnte im Museum mobile und vor den Bildschirmen erlebt werden. −Foto: Audi

Ingolstadt - Autos, Audi und Musik: In passendem Umfeld begannen am Donnerstagabend die Sommerkonzerte.

 

Auf dem Programm stand das "Forellenquintett" von Franz Schubert, es spielte unter anderem Festivalleiterin Lisa Batiashvili. Nach dem Konzert tauschten sich die beiden Musikkritiker unserer Zeitung, Marco Frei und Jesko Schulze-Reimpell, online über den Abend aus. Frei hatte das Konzert auf YouTube verfolgt, Schulze-Reimpell war im Museum mobile vor Ort.

Jesko Schulze-Reimpell, 8.50 Uhr:

Guten Morgen, lieber Marco! Gestern wurden die Audi-Sommerkonzerte eröffnet, diesmal völlig anders als sonst - hauptsächlich als Online-Festival. Für mich war es ein riesiger Spaß, zum ersten Mal nach langer Zeit wieder Musiker leibhaftig vor mir spielen zu hören. Kannst Du nach den unzähligen Internet-Konzerten im Lockdown solchen Formaten überhaupt noch etwas abgewinnen?

Marco Frei, 9.05 Uhr:

Guten Morgen, lieber Jesko! Meiner Meinung nach sind die Online-Streams im Internet inzwischen völlig ausgelutscht: übrigens nicht nur ästhetisch, sondern auch klangtechnisch. Ja, sie haben anfangs geholfen, dass Kultur sichtbar bleiben konnte, aber: Die Corona-Pandemie hat vollends offenbart, dass das Live-Konzerterlebnis vor Ort mit Publikum nicht zu ersetzen ist. Es gab anfangs ja durchaus ignorante Geister in der Politik, die ernsthaft alle möglichen Einsparungsszenarien durchgerechnet haben - mit Verweis auf die Online-Streams. Nach dem Motto: Es geht doch auch so. Das ist eben nicht der Fall. Keine Technik der Welt kann eine Top-Klangqualität abbilden, gerade in der Klassik, ganz zu schweigen von der einzigartigen Atmosphäre im Saal mit Publikum. Das hat auch der jetzige Live-Stream der Sommerkonzerte klar offenbart. Du warst ja vor Ort: Welchen Eindruck hattest Du vom "Forellenquintett"? War es live klanglich ausgeglichen?

Jesko Schulze-Reimpell, 9.18 Uhr:

Ich habe natürlich den Vorteil, beides erleben zu können: erst im Museum mobile und dann gerade habe ich noch mal reingehört in das Video. Der Eindruck ist für mich sehr unterschiedlich. Ich saß im Saal fast senkrecht über den Musikern. So sehr ich es genossen habe, diese fantastischen Musiker zu hören, ich fand den Klang unausgeglichen. Das Klavier (Alice Sara Ott) und besonders der ausgesprochen brillante Klang der Geige von Lisa Batiashvili war immer sehr präsent. Vom Bratscher Antoine Tamestit, eigentlich ein Superstar, habe ich manchmal die Bewegungen gesehen, aber fast nichts gehört. Ähnlich ging es mir beim Kontrabassisten Nabil Shehata und beim Cellisten Maximilian Hornung. Vielleicht hatte ich aber einen unglücklichen Platz. Wie hast Du das erlebt, Marco?

Marco Frei, 9.37 Uhr:

Deinen Eindruck teile ich. Auch im Online-Stream stach Lisa Batiashvili deutlich heraus. Die Dynamik bewegte sich bei ihr fast durchwegs im Forte oder Mezzoforte, und noch dazu wurde ein sattes Vibrato zelebriert. In der Violine fehlte mir doch teilweise diese sehnsüchtige Leichtigkeit Schuberts: dieser melancholische Schwebezustand, der stets das "süße Jenseits" im Sinn hat. Für mich hat das Alice Sara Ott am Klavier durchaus eingefangen, aber: Die Geige blieb zu dominant. Über Antoine Tamestit an der Bratsche habe ich mich sehr gefreut: Im Online-Stream war er für mich schon präsent, aber eben hellhörig und differenziert. Das ist ja eine seiner Spezialitäten. Aus meiner Sicht hatte er, wie auch Nabil Shehata am Kontrabass, eine Partnerschaft auf Augenhöhe aus dem Geist der Kammermusik im Sinn, aber: Vieles schien mir etwas fokussiert auf die Geige. Für mich ist diese Art des Musizierens, also der Fokus auf den Primarius bzw. die Primaria, im Grunde ein Relikt aus dem tiefsten 20. Jahrhundert. Welchen Eindruck hattest Du von Maximilian Hornung am Cello?

Jesko Schulze-Reimpell, 10.04 Uhr:

Um ein Urteil über Maximilian Hornung zu wagen, müsste ich noch mal gründlich das Video anhören. Was Lisa Batiashvili betrifft: Sie wirkt auf mich wie eine typische Solistin, die darauf gedrillt ist, sich gegen ein großes Orchester gnadenlos durchzusetzen. Als Kammermusikerin überzeugt sie mich nicht gleichermaßen. Ganz so negativ wie Du beurteile ich den Auftritt nicht, es gab packende Übergänge, Momente des Innehaltens, der Nachdenklichkeit. Aber es war vielleicht keine Sternstunde des Zusammenspiels, dazu kamen auch die Temperamente einiger Musiker zu wenig zum Ausdruck. Das Konzert war ja noch ambitionierter, es trugt den Titel "The power of nature", es ging um Romantik, Aufklärung. Dazu hat Katja Riemann Gedichte vorgetragen, "Die Forelle" von Friedrich Daniel Schubart und "Waldeinsamkeit" von Heinrich Heine. Überzeugte das Konzept?

Marco Frei, 10.26 Uhr:

Meine Worte, lieber Jesko, kamen negativer an als intendiert. Da waren zweifellos schöne Momente dabei, insbesondere ab dem zweiten Satz. Es war absolut hörenswert, dieses Quintett in dieser spezifischen Zusammensetzung zu erleben. Auch das Konzept ist grundsätzlich gut. Ich bin der Meinung, dass wichtige Themen rund um das von Schubert ursprünglich als Kunstlied vertonte "Forellen"-Gedicht von Schubart angesprochen wurden: gerade auch die politische, sozialkritische Komponente. Das wird leider oft und gerne ausgeklammert, obwohl es gerade heute wieder ein aktuelles Thema ist - leider. Bei der Rezitation von Katja Riemann bin ich mir nicht sicher: Einerseits fand ich ihre ironisch gebrochene Pathos-Theatralik originell, andererseits war es mir dann doch insgesamt zu sehr auf Unterhaltung gebürstet - was die Moderation noch verstärkte. Hat Dir die Moderation gefallen?

Jesko Schulze-Reimpell, 10.43 Uhr:

Alexander Mazza ist ein unglaublich professioneller Moderator, bei dem einfach alles aalglatt und gut funktioniert. Das wirkt auf mich fast schon ein bisschen unpersönlich. Aber, tatsächlich, er hat wichtige, auch politische Aspekte angesprochen. Außerdem: So bemerkenswert gut Mazza Englisch spricht: Bei einer durchgehend englischsprachigen Moderation - warum engagiert Audi da nicht einen Muttersprachler? Verwirrend finde ich auch, wenn Heine mal deutsch, dann wieder in Englisch vorgetragen wird. Hätte man nicht mit Untertiteln arbeiten können, wenn die Videos ohnehin schon vorproduziert wurden? Etwas anderes: Das Konzert findet ja quasi in den sozialen Medien statt. Hast Du die Online-Reaktionen des virtuellen Publikums mal angesehen? Ersetzt das den Applaus im Saal?

Marco Frei, 10.57 Uhr:

Ja, die Moderation wirkte auch auf mich etwas glatt. Auf das "Wow! " nach dem ersten Satz des "Forellenquintetts" hätte man verzichten können. Sei's drum: Ich selbst habe das Konzert über den YouTube-Kanal verfolgt. Da gab es, Stand gestern, kaum Kommentare. Es gab jedoch einige "Likes". Aus meiner Sicht kann das den Applaus und die Reaktion des Publikums im Saal nicht ersetzen. Da fehlt die direkte Interaktion, und genau das gehört ja zum "Zauber des Moments" von Aufführungskünsten wie der Musik, oder? Andererseits konnte man bei der Übertragung am Applaus eben auch hören, dass der Saal wegen der Corona-Regeln nicht vollbesetzt war. Wie war das für Dich vor Ort: Herrscht da nicht eine Art "Begräbnisstimmung"?

Jesko Schulze-Reimpell, 11.39 Uhr:

Ja, mit den kaum mehr als 20 Leuten im Publikum war das schon gespenstisch. Es war auch kein normales Konzert, sondern man befand sich eher bei einer Videoproduktion. Die Publikumsreaktionen im Netz waren tatsächlich inhaltlich eher dürftig, aber es gab viel Begeisterungsbekundungen. Deshalb wohl auch konnte der Moderator am Ende die Publikumsresonanz nicht noch einmal zurückspielen zu den Künstlern, wie es wohl geplant war. Übrigens gab es diesmal keine Übertragung auf Facebook und Instagram, da sich VW und Audi am Boykott gegen diese sozialen Medien beteiligen - wegen des laxen Umgangs mit Hasskommentaren. Auf Twitter sieht man den enormen Zuspruch für das Konzert, inzwischen haben es sich mehr als 65000 Leute angesehen, viel mehr als fast alle Auto-Videos auf #AudiOfficial. Audi als wichtige Kulturplattform, das ist doch mal was Neues. Vorsprung durch Schubert?

Marco Frei, 12.01 Uhr:

Mich freut es sehr, wenn es inzwischen einen solchen regen Zuspruch des Konzerts gab. "Vorsprung durch Schubert? " Einerseits ganz klar: Ja. Klassik ist und bleibt relevant. Das zeigt nicht nur die jetzige Resonanz auf das Konzert. Um das zu wissen, brauche ich aber nicht Quoten und Klickzahlen. Sie haben für mich keinerlei Aussage. Für mich steht ganz klar fest: Auch in ihrem coronabedingt schwierigen 30. Jahr präsentieren sich die Audi-Sommerkonzerte als spannende, feste Größe im Kulturleben. Dass Lisa Batiashvili auch in dieser tückischen Zeit ein derart hochkarätiges Programm schnüren konnte: Chapeau! Selbst das erstklassige Budapest Festival Orchestra von Iván Fischer ist dabei. Unglaublich, dass dies geklappt hat! Ja, Audi hat im Corona-Jahr seinen Kultur-Anspruch klar unterstrichen: Gut so! Findest Du aber nicht auch, dass die normalen Konzerterlebnisse mit gefüllten Sälen total fehlen? Und: Besteht nicht auch die Gefahr, dass infolge der Wirtschaftskrise kulturelles Engagement generell zurückgefahren wird?

Jesko Schulze-Reimpell, 12.20 Uhr:

Ich gebe Dir recht, Audi hat in diesem Jahr extrem deutlich gemacht, dass das Klassik-Engagement wichtig ist und hervorragend funktioniert. Audi und Klassik, das ist nach wie vor eine glückliche Ehe. Dennoch regen sich Befürchtungen, dass es die Kultur generell nach der Corona-Krise schwerer haben wird, vielleicht sogar bei Audi. Das wäre bedauerlich, die Sommerkonzerte stehen gerade jetzt mit Lisa Batiashvili als künstlerische Leiterin hervorragend da. Im kommenden Jahr wird es wohl wieder Präsenzkonzerte geben, dennoch hoffe ich, dass weiter experimentiert wird, dass die Konzerte auch gestreamt werden. Es gibt ein weltweites Interesse an Audi-Konzerten, das hat sich erwiesen. Audi bleibt hoffentlich weiterhin der musikalische Autobauer.

DK