München
Unselige Familienbande

Fulminant: Julia Hölscher inszeniert Marieluise Fleißers Volksstück "Der starke Stamm" am Münchner Residenztheater

24.01.2020 | Stand 02.12.2020, 12:07 Uhr
Schauspielerische Bravourleistungen: Luana Velis, Robert Dölle und Johannes Nussbaum. −Foto: Then

München - Welch ein prächtiges Stück!

Welch eine faszinierende Inszenierung! Welch großartige Schauspielerleistungen! Eine Neuinszenierung von Marieluise Fleißers "Der starke Stamm", zweifellos eines der besten bairischen Volksstücke, die das Residenztheater als Bayerisches Staatsschauspiel unter der neuen Intendanz von Andreas Beck als Auftakt auch der Pflege heimischer Autorinnen und Autoren sieht. Und eine fulminante Aufführung, die wieder einmal hervorragend dokumentiert, wie genau die Ingolstädter Autorin das kleinbürgerliche Milieu eingefangen hat und wie präzise sie die Figuren schildern konnte.

Der Choral ist verklungen, die Kirchenglocken läuten, der Trauergottesdienst ist zu Ende, die gute Zenta ist der geweihten Erde übergeben worden. In des Sattlermeisters Leonhardt Bitterwolfs leeren Stadel mit dem überdimensionalen Scheunentor kommt die Trauergemeinde zusammen. Doch so rau und roh wie die Bodenbalken ist auch die Konversation zwischen dem Witwer und Zentas Verwandtschaft. Und so leer wie die Maßkrüge beim hier nicht stattfindenden Leichenschmaus sind auch die Erinnerungsfetzen an die Verstorbene. Der Verblichenen wird freilich bald nicht mehr gedacht, sondern die schlummernden Familienfehden brechen auf. Und Balbina, die Schwägerin des Sattlermeisters, wirft schon mal ein Auge auf den Witwer. Schließlich ist er ja eine gute Partie. Zu dumm nur, dass sich Bitterwolfs Dienstmagd Annerl ebenfalls Chancen ausrechnet.

Ein Glanzstück des kritischen bayerischen Volkstheaters schrieb Marieluise Fleißer (1901-1974), das auf Veranlassung von Bert Brecht 1950 in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde. Ein Volksstück voll tiefster Menschenkenntnis und eine bitterböse Satire über die "Wir sind wieder wer"-Mentalität des beginnenden Wirtschaftswunders zur Adenauer-Zeit.

Gerissen und geschäftstüchtig sind sie alle, die Mitglieder dieses Bitterwolf-Clans. Doch am skrupellosesten und raffgierigsten von allen ist zweifellos Balbina, die Schwester der verstorbenen Zenta. Mit der Aussicht aufs schnelle Geld hat sie nicht nur der Zenta am Totenbett noch schnell einen Kredit abgeluchst, sondern auch viele andere Verwandte in ihre dubiosen Abzockereien und Spekulationsunternehmungen eingebunden. Nachdem die Aufstellung von Glücksspielautomaten in den Dorfwirtschaften der Umgebung und der schwunghafte Handel mit unzüchtigen "Buidln" nicht mehr genügend Gewinn abwerfen, steigt sie in ein bei uns in Bayern krisensicheres Geschäft ein: Wallfahrten zu angeblichen Marienerscheinungen organisiert sie, bis sich auch hier die Rezession bemerkbar macht.

Doch der Gerichtsvollzieher kommt nicht zur Balbina, sondern zu ihrem Geschäftsführer und Schwager Bitterwolf. Doppeltes Pech für den von seiner Schwägerin Reingelegten, denn die Dienstmagd Annerl, die Bitterwolf inzwischen geschwängert hat, wendet sich Hubert, dem Sohn des Sattlermeisters, zu, der als Außenseiter der Familie vom reichen Onkel fürstlich bedacht wurde. Moral hin, lediges Kind her, Geld ist allemal die Triebfeder der Mitglieder dieses "Starken Stamms".

In ein ungemein subtiles Regietheater, bei dem auf die präzise Charakterisierung all der knorrigen, verbohrten, wuseligen und bajuwarisch-schlitzohrigen Figuren allergrößter Wert gelegt wurde, tauchte die Regisseurin Julia Hölscher dieses ebenso brillante wie herrlich hintergründig-böse Volksstück. Eine Atmosphäre von Neid und Missgunst, von Übervorteilung und Erpressung, von dumpfer Erotik und übelsten Lumpereien. Eine großartige Mischung aus Bauernschläue und Raffgier, aus Verschlagenheit und Bosheit. Dazu Volkstheaterprotagonisten, die das Bärbeißige und Hinterfotzige der Figuren und Fleißers bairische Kunstsprache größtenteils bestens beherrschen. Allen voran Robert Dölle als der Sattlermeister Leonhadt Bitterwolf und Katja Jung als Balbina Puhlheller. Ein herrisches Mannsbild, ein Starrkopf und auch ein rabiater Lackl mit kahlgeschorenem Schädel und markiger Stimme ist dieser Bitterwolf, während die Balbina mit allen Wassern der Heimtücke gewaschen ist und mit Hinterlist und Verlockungen die Verwandten für ihre Geschäfte einspannt. Mit übertriebener Freundlichkeit hinter der die menschliche Kälte sich verbirgt, und mit girrendem Locken, das ihren handfesten Geschäftssinn verdecken soll, zeigt Katja Jung höchst überzeugend die Doppelbödigkeit dieser realen Theaterfigur "aus dem richtigen Leben" zwischen gemimter Herzlichkeit und knallhartem Egoismus, während Robert Dölle das Perfide und Verschlagene des Bitterwolf bestens offenlegt. Zwei schauspielerische Bravourleistungen.

Aber auch die übrigen Rollen wertete die Regisseurin zu Kabinettstückchen genauester Personenzeichnung auf: Ob die frommen, von Balbina ausgenommenen Marienverehrerinnen (Pascale Lacoste, Isabella Lappé und Christel Riedel) oder der Gerichtsvollzieher (Christian Erdt), Bitterwolfs Schwager (Thomas Reisinger) oder der Metzgerjackl (Niklas Mitteregger), eindrucksvolle Charakterstudien sind sie alle. Dazu zeigt Luana Velis als Dienstmagd Annerl die Wandlung vom Tschapperl zur selbstbewussten Frau ebenso hinreißend auf wie Johannes Nussbaum den von der Pubertät und den Machenschaften von Vater und Tante arg gebeutelten Bitterwolf-Sohn Hubert. Kunstmaler will er werden und wird deswegen von allen böse gemobbt. Hinreißend auch, wie Luana Velis mit ebenso verschämten wie lasziven Blicken den Witwer nach Zentas Beerdigung anlockt, um ihn am Schluss mit Hass zu überschütten und nun Hubert, den vom schwarzen Schaf der Familie dank der Erbschaft des Onkels zum begehrenswerten Hochzeitsobjekt Aufgestiegenen zu umgarnen.

Eine atmosphärisch ungemein dichte, vom Premierenpublikum mit donnerndem Applaus bejubelte Aufführung als furiose Hommage an die bedeutende Autorin aus Ingolstadt.

DK


ZUM STÜCK
Theater:
Residenztheater München
Regie:
Julia Hölscher
Bühne:
Paul Zoller
Kostüme:
Meentje Nielsen
Nächste Vorstellungen:
25. und 26. Januar sowie mehrmals im Februar
Kartentelefon:
(089) 2185-1940