Ingolstadt
Ruben Gazarian verabschiedet sich mit einem hochemotionalen Konzert vom Georgischen Kammerorchester Ingolstadt

14.07.2021 | Stand 23.09.2023, 19:46 Uhr
Honorig, unbequem, ernsthaft: Ruben Gazarian dirigiert das Georgische Kammerorchester. −Foto: Schaffer

Ingolstadt - Es hat Bedeutung, wie ein Künstler sich von einem Ort verabschiedet.

 

Als der ehemalige Chefdirigent des Georgischen Kammerorchesters, Markus Poschner, 2006 Ingolstadt verließ, präsentierte er noch einmal die gleiche Sinfonie, die g-Moll-Sinfonie von Wolfgang Amadeus Mozart, mit der er Jahre vorher angetreten war. Ein Kreis sollte sich schließen. Ariel Zuckermanns Abschied 2011 war eine Art Fest, es wurde gelacht, gealbert und gefeiert.

Und bei Ruben Gazarian möchte man sagen: Es wurde getrauert.

Ganz stimmt das natürlich nicht. Gazarian geht durchaus wohlgemut, er hat eine spannende Stelle angenommen als Generalmusikdirektor eines Opernhauses in Thüringen. Gleichzeitig wird er immer wieder gerne zurück als Gast zum GKO kommen. Die Trauer, die er präsentiert, ist vielmehr eine künstlerisch inszenierte Depression. Das passendere Wort ist vielleicht sogar: Ernsthaftigkeit. Gemeint ist diese existenzielle Ernsthaftigkeit, von der er in seiner Ansprache an das Publikum vor dem Konzert immer wieder redet. Ihm war es bei all seinen Konzerten in Ingolstadt stets wichtig, nicht nur an das Orchester Ansprüche zu stellen, sagt er, sondern auch an das Publikum. "Wir wollen Sie zum Nachdenken anregen, Sie auch emotional tief bewegen. "

In der Tat: Bei seinem Abschiedskonzert rüttelt Gazarian an die Grundfesten unserer Existenz. Er verströmt Töne, deren Innigkeit, Traurigkeit, deren krisenhafter Wucht man sich nur schwer entziehen kann. Aber das Konzert ist zweigeteilt, am Ende überwiegen plötzlich wieder etwas freundlichere, fast heitere Töne.

Gazarians letztes Konzert offiziell als Chef des Orchesters (das er derzeit eigentlich gar nicht mehr leitet, es handelt sich ja um ein Nachholkonzert, das am 23. Dezember hätte stattfinden sollen), ist auf jeden Fall ein dramaturgisches Kunstwerk, ein geschickt gesponnenes Gebilde aus Werken, Motiven und gegenseitigen Bezügen, über die man lange reflektieren kann.

Diese spezifischen, raffiniert zusammengestellten Programme haben Gazarian in der Vergangenheit auch kritische Töne aus Publikum, Stadtverwaltung und bei der Kritik eingebracht. Denn Gazarian macht es seinen Zuhörern damit schwer, er verlangt ihnen anstrengendes Zuhören ab, Gedankenarbeit. Der gebürtige Armenier hätte es sich oft auch einfacher machen können, indem er populäre Stücke, berühmte Meisterwerke, unterhaltsame Klassikschlager aneinandergereiht hätte, ohne viel Rücksicht zu nehmen auf die dramaturgische Binnenspannung der Werkfolge.

Gazarians Abschiedskonzert jedenfalls ist ein typisches Programm für den Dirigenten, durchdacht, anstrengend, unpopulär, hochemotional. Es beginnt ungewöhnlich, mit einem Solostück, der Chaconne für Violine, die Johann Sebastian Bach kurz nach dem Tod seiner ersten Frau geschrieben hat, und von der wir heute wissen und spüren, dass sie Choräle integriert, in denen es um Tod und Auferstehung geht. Gazarian setzt dieses Werk direkt in Beziehung zu Karl Amadeus Hartmanns wohl bekanntestem Stück, das großartige "Concerto funèbre" für Violine und Streichorchester, das eine direkte Reaktion, eine Klagemusik auf den Kriegsausbruch 1939 ist. Auch in diesem Werk leuchtet am Ende ein Choral auf: "Unsterbliche Opfer", ein in Osteuropa bekanntes Revolutionslied.

Dann allerdings vollzieht das Programm einen kleinen Bruch. Paul Hindemiths "Fünf Stücke" wurden eigentlich für ein Laienorchester komponiert und sind doch wunderbare Petitessen, weil sie so geschickt und unterhaltsam Strukturen der Barockmusik und der Klassik aufgreifen und verarbeiten. Gazarian hat das Werk ausgewählt, weil es dem Orchester besonders ans Herz gewachsen ist, weil die Stücke wohl auch etwas unterschätzt werden und entdeckt werden sollten und vor allem, weil sie inzwischen zu Glanzstücken herausgeputzt wurden und beim Publikum immer wieder sehr gut ankamen. Und dann, zum Abschluss, erneut Haydn. Wenn irgendetwas von Gazarians Zeit als Orchesterchef in Ingolstadt besonders in Erinnerung haften bleiben sollte, dann ist es seine Beschäftigung mit diesem Wiener Klassiker. In gefühlt fast jedem seiner Konzerte hat Gazarian eine Haydn-Sinfonie präsentiert - diesmal die Nr. 22 mit dem später hinzugefügten Titel "Der Philosoph" - eine passende Bezeichnung auch für den tiefgründigen Dirigenten Gazarian selbst.

Natürlich wurde gründlich vorbereitet und auf hohem Niveau musiziert, wie fast immer bei Ruben Gazarian. Allenfalls der Beginn des Konzertes enttäuschte ein wenig. Der Solist Linus Roth spielte die Chaconne klangschön, souverän, kultiviert - und doch letztlich wenig packend. Den tragischen und verzweifelten Überschwang des überlangen Satzes, diesen Versuch, die physischen Grenzen des Geigenklanges zu transzendieren wurde von Roth in seiner etwas introvertierten Interpretation kaum dargestellt. Umso bewegender gelangen ihm und dem GKO das Hartmann-Violinkonzert mit seinen matt schimmernden Geigentönen, dem verschwommen hervortretenden Choral im Schlusssatz und den suggestiven Zwischenspielen des Orchesters.

Unterhaltsamer dann der zweite Teil des Konzerts mit den neobarocken Hindemith-Stücken, die Gazarian plastisch, lustvoll, voller Fantasie, durchaus auch ironisch inszenierte. Er behandelte sie fast so, als wären sie von Haydn komponiert. Und der Haydn selbst? Hier liefen Gazarian und das GKO zur Hochform auf. Besonders der Kopfsatz mit seinem glockenartig in den Raum gesetzten Hornmotiv, dem Walking Bass des Orchesters, wurde so delikat, so voller Bezüge, so voller kleiner Nuancen gestaltet im Pingpong-Spiel der Motive, die sich die Instrumentengruppen zuwarfen, dass man nur staunen konnte.

Auch Oberbürgermeister Christian Scharpf verabschiedete sich bei diesem Konzert von Ruben Gazarian. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er in seiner Rede nicht nur erwähnte, was gut gelang, etwa die acht CD-Produktionen, die das Orchester herausbrachte, sondern auch die Schattenseiten dieser fünf Amtsjahre: "Es waren auch Jahre des Kampfes und der Frustration. " Von Anfang an hätte sich Gazarian für Reformen stark gemacht, die nun, ganz am Ende seiner Ära, endlich teilweise umgesetzt wurden. Aber es war nicht leicht: "Sehr lang sind Sie mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen", sagte der OB völlig zu Recht. Gazarian wäre in Krisenzeiten gekommen und nun verlasse er das Orchester erneut in einer Krise.

Man wird Ruben Gazarian, diesen immer unbequemen, immer honorigen, aufrechten, kämpferischen Orchesterleiter vermissen. Seine anstrengenden Programme mit oft allzu ausgefallenen Kompositionen ebenso wie seine reaktionsschnellen, quicklebendigen Haydn-Deutungen. In seiner langen Rede an das Publikum lässt sich dieser so ernsthafte Mensch dazu verleiten, zuzugeben, er hätte mit Haydn und dem GKO wirklich Spaß gehabt - um das dann gleich sorgenvoll halb wieder zurückzunehmen. "Spaß nicht im primitiven Sinne. " Nein, das würde zu ihm auch nicht passen. Denn Spaß machen Konzerte von Gazarian (fast) immer - allerdings stets auf hohem Niveau und mit Tiefgang.

DK

Jesko Schulze-Reimpell