"Menschenfeindlich, aggressiv, genial"

24.02.2020 | Stand 02.12.2020, 11:53 Uhr
Das Genie Beethoven holt Christine Eichel in ihrer Biografie vom Sockel. −Foto: Kierock, Berg/dpa

Christine Eichel hat eine fesselnde Biografie über Ludwig van Beethoven geschrieben, der vor 250 Jahren zur Welt kam. Im Interview spricht sie über die furchtbare Kindheit des Genies, seine Wutausbrüche, warum Frauen ihn ablehnten und seine Mission.

Frau Eichel, Beethovens 250. Geburtstag wird gefeiert, allerdings nicht mit dem Aufwand wie für seine Kollegen Mozart oder Bach. Warum eigentlich?
Christine Eichel: Beethovens Popularität ist nicht mit derjenigen Bachs oder Mozarts vergleichbar, weil ihn das große Publikum lediglich mit einigen wenigen Schlagern assoziiert. Dazu gehören das Klavierstück "Für Elise", die "Mondscheinsonate", der Anfang der fünften und der Schlusssatz der neunten Symphonie. Aber sein Werk ist wesentlich komplexer - und in weiten Teilen wenig bekannt, etwa seine Kammermusik oder seine Lieder. Es gibt eben nicht die eine charakteristische Musiksprache, mit der man ihn umstandslos identifizieren könnte.

Wie meinen Sie das?

Eichel: Wenn im Radio klassische Musik läuft, wird man sehr schnell Bach oder Mozart erkennen. Bei Beethoven ist das nicht so leicht, weil er keinen spezifischen Personalstil ausprägte und dann beibehielt. Stattdessen durchlief er viele Entwicklungsphasen und experimentierte mit ganz unterschiedlichen Formen. Schon für seine oft überforderten Zeitgenossen war Beethoven deshalb immer für eine Überraschung gut - expect the unexpectable.

Hat seine geringere Popularität auch etwas mit seiner Persönlichkeit zu tun, die vielleicht nicht so zugänglich ist wie die von Mozart?
Eichel: Unser Bild von Komponisten wird durch manches Klischee geprägt. So ist unsere Vorstellung von Mozart heute weithin durch Milos Formans "Amadeus"-Film und die frech-erotischen Bäsle-Briefe bestimmt. Mozart erscheint uns als das kichernde, in seinem infantilen Übermut sympathische Glückskind. Das macht ihn zeitgeist-kompatibel.

Und Beethoven?

Eichel: Demgegenüber ist Beethoven ein zerklüfteter Charakter, misanthropisch, abweisend, innerlich zerrissen. Diese Ecken und Kanten wurden freilich durch übereifrige Denkmalspflege bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen. Oft mit politischen Implikationen. Bereits im 19. Jahrhundert vereinnahmte man Beethoven in den nationalen Diskurs, als Beispiel für die Überlegenheit deutschen Wesens. Im Dritten Reich missbrauchte man ihn, indem man ihn zum einsam ringenden Kämpfer und Schöpfer wehrertüchtigender Musik stilisierte. Seither steht seine oft überwältigende Musiksprache bei manchem unter dem Verdacht des Demagogischen.

Beethoven war ähnlich wie Mozart ein Wunderkind. Aber er hatte offenbar nicht diesen Erfolg?
Eichel: Johann van Beethoven versuchte durch gewaltsamen Drill, seinen Sohn Ludwig zum Kinderstar aufzubauen. Er wollte den Wunderkindmythos Mozarts wiederholen - hauptsächlich aus finanziellen Gründen. Mit sieben Jahren debütierte Ludwig als Pianist in Köln, allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Anders als Mozart war er einem despotischen Vater ausgeliefert, der ihm wenig musikalisches Rüstzeug mitgeben konnte.

Leopold Mozart war offenbar eine andere Persönlichkeit?

Eichel: Ja, er war hochgebildet, er komponierte und hatte musikpädagogische Werke verfasst. Johann hingegen war eine simple Natur, der seinen Sohn regelrecht ans Klavier prügelte. Nur durch die Protektion des eigenen Vaters, der eher zufällig einen Kapellmeisterposten in Bonn ergattert hatte, war Johann van Beethoven als Sänger in der Hofkapelle engagiert worden. Man mokierte sich über seine dünne Stimme; zunehmend verfiel er dem Alkohol. Er verschuldete sich, die Familie stieg ab, daher projizierte er all seine ökonomischen und künstlerischen Ambitionen auf den ältesten Sohn.

Hatte Beethoven eine schwere Jugend?
Eichel: Absolut. Er war ein ausgebeutetes Kind aus prekären Verhältnissen. Der Vater galt als gewalttätiger Choleriker. Er quälte Ludwig mit Essensentzug und sperrte ihn in den Keller, wenn der Junge nicht spurte. Selbst in jenem wenig zartfühlenden  Zeitalter war das ungewöhnlich. Ein Musiker der Bonner Hofkapelle sprach schockiert von "entsetzlichen Misshandlungen". Die Mutter wiederum vernachlässigte Ludwig emotional wie lebenspraktisch, sie ließ ihn regelrecht verwahrlosen. Seinen Mitschülern fiel auf, dass Ludwig ungewaschen, ungekämmt und abgerissen in der Schule erschien. Sie mutmaßten deshalb sogar, die Mutter sei bereits verstorben.

Hat das dazu geführt, dass Beethoven zu einer sehr schwierigen Persönlichkeit wurde?
Eichel: Für Beethoven war diese Kindheit eine schwere Hypothek, eine Anleitung zum Unglücklichsein. Durch die Mischung aus extremer Misshandlung und emotionaler Vernachlässigung konnte er kein echtes Selbstwertgefühl ausprägen. Er wurde misstrauisch und streitsüchtig, letztlich auch bindungsunfähig. Permanent zerstritt er sich selbst mit engsten Freunden. Man fürchtete sein eruptives Temperament. Die jahrelang unterdrückten Gefühle wie Ohnmacht und Wut führten zu unkontrollierten Ausbrüchen: Mal bewarf er seine Köchin mit faulen Eiern, mal prügelte er sich mit seinem wichtigsten Mäzen, Fürst Lichnowsky. Zeitlebens fehlte ihm die Impulskontrolle, zeitlebens haderte er mit sich und der Welt.

Beethoven hat nie geheiratet, war aber offensichtlich dauernd verliebt. Und er hatte anscheinend auch ein Kind mit Josephine von Brunsvik: Minona. Wie war das Verhältnis Beethovens zu den Frauen?
Eichel: Hier ist viel Mythenbildung im Spiel. Dass Beethoven nie ohne Liebe war, soll er selber behauptet haben. Die Frage ist jedoch, was man darunter versteht. Zweifelsfrei erwiesen ist nicht eine einzige Liaison. Schon als Teenager prägte er ein fatales Muster aus: Er kam als Klavierlehrer in adelige Familien, wurde wie ein Freund behandelt, warb um die Tochter des Hauses und wurde von der Familie entrüstet zurückgewiesen. Aufgrund meiner Recherchen nehme ich an, dass er allenfalls im Theatermilieu Affären hatte, beispielsweise mit den Sängerinnen Elisabeth Röckel oder Anna Milder-Hauptmann. Außerdem steht zu vermuten, dass er Bordelle aufsuchte. Vorzugsweise ging er im Prater aus, zu jener Zeit ein Terrain der käuflichen Liebe.

Und wie stand es mit echten Beziehungen?

Eichel: Was legitime Verbindungen betrifft, liebte Beethoven systematisch chancenlos. Vielleicht aus einer geheimen Bindungsangst heraus, auch homophile Neigungen werden diskutiert. Aber Beethoven war definitiv in die Liebe verliebt. So schrieb er sehnsuchtsvolle Briefe im zeittypischen Werther-Stil an Josephine von Brunsvik, ebenfalls eine ehemalige Klavierschülerin und seine große Liebe. Eine Beziehung auf Augenhöhe wäre allenfalls mit dieser unkonventionellen, erstaunlich emanzipierten Adeligen möglich gewesen. Doch auch sie schreckte vor einer Verbindung mit Beethoven zurück. Es gab nur eine einzige Liebesnacht, bei der wahrscheinlich eine gemeinsame Tochter, Minona, gezeugt wurde.
 
Wie haben ihn die Frauen wahrgenommen?
Eichel: Um diese Frage zu beantworten, habe ich ein riesiges Konvolut zeitgenössischer Berichte von Frauen gesichtet, die Beethoven nahestanden. Fast alle schildern ihn als extrem unattraktiv, ja abstoßend. Und das nicht nur wegen seines pockennarbigen dunklen Teints. Wie schon zu Kinderzeiten trat er auch als erwachsener Mann meist abgerissen und verwahrlost auf - einmal wurde er deshalb sogar als vermeintlicher Landstreicher verhaftet. In Gesellschaft griff er zur Dochtschere, um sich die Zähne zu säubern. Mitten in einer privaten Klavierdarbietung hustete er in sein Taschentuch und besah sich lange, was er da produziert hatte, bevor er weiterspielte. Er war auch kein umgänglicher Mann, sondern misanthropisch, oft aggressiv. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass er mindestens vier bis fünf Flaschen Wein täglich trank und neben seinen cholerischen Ausbrüchen zu depressiven Verstimmungen neigte, liegt auf der Hand, dass er sich nicht gerade als perfekter Ehemann empfahl. Sein Charisma ist unbestritten. Die Vorstellung aber, dass sich die Damenwelt erotisch von ihm angezogen fühlte, gehört fraglos ins Reich der Beethovenmythen.
 
Anders als viele andere Komponisten hatte Beethoven so etwas wie eine Mission. Er setzte sich für Freiheit und Menschenwürde ein. Dadurch müsste er uns doch näher stehen?
Eichel: Es ist wahr, Beethoven hatte ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein. Heute betrachten wir es als selbstverständlich, dass Musik zur Bildung und Menschwerdung dazugehört. Doch Beethoven war der erste Komponist, der mit seiner Musik eine humanistische Mission verfolgte. Da er sich von Jugend an in Kreisen der Illuminaten bewegte, wird ihm der Gedanke einer solchen Mission früh vertraut gewesen sein. Beethoven war auch der erste Komponist, der behauptete, seine Musik sei der Literatur und der Philosophie ebenbürtig. Damit wertete er die Musik ungeheuer auf. Bis dahin hatte man sie als akustische Möblierung des Raums wahrgenommen. Beethoven hob sie in eine intellektuell satisfaktionsfähige Sphäre.

Wie hat Beethoven diese humanistische Mission umgesetzt?

Eichel: Expressis verbis schrieb er einmal, er wolle qua Musik die Menschheit von allem Elend erlösen, mit der sie sich abschleppe. Deshalb entschloss er sich auch nach langem Ringen, in der 9. Symphonie Schillers "Ode an die Freude" zu vertonen. Letztlich war es das Eingeständnis, dass er mit reiner Instrumentalmusik seine Mission nicht transportieren konnte. Er fühlte sich unverstanden und fürchtete, seinem Publikum könnten die höheren Ziele seines Komponierens entgehen.
 
Beethovens Bildungshorizont ist eigentlich ziemlich rätselhaft. Er hat bereits mit elf Jahren die Schule verlassen, kannte sich aber in der zeitgenössischen Philosophie aus, sprach etliche Sprachen, war wissenschaftlich umfassend informiert. Wie soll man das verstehen. War Beethoven ein extrem intelligenter Mensch? 
Eichel: Ich denke, ja. Sein immenses Wissen eignete er sich größtenteils autodidaktisch an. Nachdem er die Schule verlassen hatte, wurde er Mitglied der Bonner Lesegesellschaft, die stark unter dem Einfluss der Aufklärung stand. Dort kam er mit den Werken Kants, Herders, Klopstocks und vieler weiterer tonangebender Autoren in Berührung. Auch sein Musiklehrer Neefe sorgte für seine literarische wie philosophische Bildung. Beethoven sprach Italienisch, Französisch und Englisch, las Plutarch, Platon und Ovid teilweise im Original. Das ist eine unglaubliche Leistung und lässt auf überdurchschnittliche intellektuelle Kapazitäten schließen. Nicht zuletzt vertonte er Gedichte wichtiger Schriftsteller seiner Zeit, etwa Goethe, Gellert, Lessing und Jeitteles. Kein Komponist vor ihm war derart umfassend gebildet.
 
In diesem Jahr feiert die Welt den 250. Geburtstag des Komponisten. Wie einflussreich war er eigentlich für die musikalische Nachwelt?
Eichel: Vor allem auf die unmittelbar folgenden Komponistengenerationen hatte er großen Einfluss, insbesondere durch sein symphonisches Werk. Darin entfesselte er ungehörte Klanggewalten, sprach der Musik aber auch einen Gehalt jenseits klingender Oberflächen zu. Das inspirierte Komponisten wie Brahms und Schumann zu ähnlich anspruchsvollen Instrumentalwerken. Der Chorgesang im Finale der der 9. Symphonie veranlasste Richard Wagner dazu, eine neuartige Synthese von symphonisch dimensionierter Musik und Gesang in seinen Musikdramen zu verwirklichen. Überdies erfand Beethoven die Form des Zyklus durch seine Bagatellen- und die Liederzyklen. Diese Idee griffen viele Komponisten nach ihm auf.

Und was hat uns Beethoven heute noch zu sagen?
Eichel: Jenseits der musikalischen Innovationen ist er nach wie vor hochinteressant wegen seiner gesellschaftspolitisch fortschrittlichen Haltung. Im Grunde ist Beethoven eine sehr moderne Figur. Als Anhänger der Französischen Revolution rüttelte er an den Gitterstäben der Ständegesellschaft. Er wollte kein Domestik mehr sein wie noch sein Lehrer Haydn, der beim Fürsten Esterhazy hierarchisch auf der Stufe eines Küchenchefs rangierte. Stattdessen ertrotzte sich Beethoven Freiheit und Unabhängigkeit, wenn auch zunächst um den Preis großer existenzieller Unsicherheit.

Beethoven stilisierte sich also konsequent als Nonkonformist?

Eichel: Ja, insofern ist er eine faszinierende Erscheinung. Er war ein Rockstar seiner Zeit, gesellschaftlich unangepasst, künstlerisch kompromisslos. Mit den vielen Regelbrüchen seiner Musik widersetzte er sich ästhetischen Konventionen und suchte den persönlichen, den individuellen Ausdruck. Auch diesen radikalen Individualismus empfinden wir heute als sehr modern: Er ist ein Künstler, der Ich sagte, nicht mehr Wir. Einen Ausweg aus der Rolle des musikalischen Dienstleisters fand er übrigens durch die systematische Drucklegung seiner Kompositionen. Geschickt feilschte er um Honorare und spielte die Verlage gegeneinander aus, um höhere Einnahmen zu generieren. Die Ich-AG Beethoven war so erfolgreich, dass er als wohlhabender Mann starb.

DK

Das Interview führteJesko Schulze-Reimpell.