München
Lulu mal drei

Frank Wedekinds "Monstretragödie" als hinreißende Multimedia-Show im Münchner Marstalltheater

24.11.2019 | Stand 02.12.2020, 12:32 Uhr
Spiel mit den Videoprojektionen: Szene mit Charlotte Schwab, Liliane Amuat und Juliane Köhler (von links). −Foto: Hupfeld

München (DK) Leichen pflastern ihren Weg.

Männer allesamt, vom Bankier Puntschuh bis zum Obermedizinalrat Dr. Goll, vom Chevalier Casti-Piani über den Chefredakteur Dr. Schön bis zum Porträtmaler Eduard Schwarz und anderen mehr. Selbstmord, Schlaganfall, Tötung auf Verlangen oder aus Versehen. Doch das eigentliche Opfer ist Lulu selbst: Kindfrau und Femme fatale, umjubelte Tänzerin und Prollmädchen mit der Hoffnung auf sozialen Aufstieg, frivole Salonschlange und anlehnungsbe- dürftiges Kaschemmengirl in Schwabings Bohemezirkeln um 1900. Die Männer lockt sie scharenweise an und verstößt sie wieder, sie gurrt und girrt und setzt ihre weiblichen Reize verlockend ein. Das Leben will sie in vollen Zügen genießen und ist am Schluss doch das Opfer ihrer erotischen Ausstrahlung und ihres unbekümmerten Wesens: Von Jack the Ripper wird sie, zur billigen Nutte inzwischen abgesunken, in Londons Rotlichtviertel schließlich hingemeuchelt.

Eine "Monstretragödie" schrieb Frank Wedekind (1864- 1918) mit seinen beiden Dramen "Erdgeist" und "Die Büchse der Pandora", die 1913 zu "Lulu" zusammengefasst wurden. Zu Lebzeiten des damaligen Bürgerschrecks von der Zensur verboten, durften sie nur als "Liebhaberaufführungen" in Privattheatern gespielt werden. Trotzdem gab's in der prüden deutschen Kaiserzeit wegen dieses Schockers Skandale zuhauf. Doch was destillierte der 39-jährige Bastian Kraft in seiner Neuinszenierung im Münchner Marstalltheater aus diesem ehemaligen Aufregerstück? Eine faszinierende, hinreißend hippe Revue mit Wedekinds Original als Rahmenhandlung, arrangiert mit fantastischen Regieeinfällen.

Leer ist die Bühne, nur eine weiße Leinwand im Bühnenhintergrund und drei versteckte Projektoren. Gedämpftes Licht. Tierbändiger Rodrigo tritt auf, um im Prolog mit reißerischen Sprüchen das Publikum in sein Etablissement zu locken: Die Welt als Zirkus und die darin lebenden Menschen als Raubtiere. Drei Frauen sind's hier (Liliane Amuat, Juliane Köhler und Charlotte Schwab) als Varieté-Annonceusen in Frack und Zylinder. Laszive Gesten, lockender Blick. Und nicht nur in dieser ersten Szene zeigen sie zu dritt abwechselnd und auch synchron die Facetten der Titel gebenden Lulu.

Aber nicht nur das. Denn der Running Gag dieser Inszenierung liegt in der Verdoppelung des Geschehens. Bastian Kraft und seine Licht- und Technik-Crew beamen Videos mit einzelnen Episoden von Lulus Auf- und Abstieg auf die Großleinwand, vor der die drei Bühnen-Lulus agieren und mit den Videofiguren kommunizieren. Wie Scherenschnitte und Schattenrisse als Live-Acts sehen diese Arrangements aus. Wenn Juliane Köhler beispielsweise als der exzentrische Maler Eduard Schwarz auf der Bühne den Pinsel führt, wird dank raffinierter Bild- und Lichtprojektion das Gemälde auf der Leinwand von ihrer Hand vollendet. Doch der allergrößte Gag dieser fulminanten Neuinszenierung ist die Leistung der Maskenbildner: Die drei Lulus diskutieren und kommentieren mit Witz und Drolerie die Video-Sequenzen, in denen sie in die Männerrollen geschlüpft sind. Dank Schminke, Perücken, Bärten, Glatzen und der köstlichen Darstellung lächerlichen Machoverhaltens der drei phantastischen Schauspielerinnen sind all die Lulu-Verehrer ins Groteske gesteigert. Toll. Eine vom Premierenpublikum bejubelte "Monstretragödie" der anderen Art.

ZUM STÜCK
Theater:
Marstalltheater, München
Regie:
Bastian Kraft
Video:
Kevin Graber
Kostüme:
Dagmar Bald
Maske:
Christian Augustin und Team
Dauer:
Eine Stunde, fünfundvierzig Minuten, ohne Pause
Nächste Vorstellungen:
25. und 28. November, 1., 4., 5., 7., 11., 13. und 21. Dezember
Kartentelefon:
(089) 21851940.