Ingolstadt
"Klassik braucht wieder mehr Relevanz"

28.06.2019 | Stand 23.09.2023, 7:35 Uhr
Angeregtes und anregendes Gespräch über klassische Musik bei der DK-Podiumsdiskussion. −Foto: Weinretter

Ingolstadt (DK) Bei der Podiumsdiskussion des DONAUKURIER im Alf-Lechner-Museum in Ingolstadt wurde über den Zustand der klassischen Musik debattiert. Die einen sahen keine Krise, andere forderten neue Rezepte, um mehr Menschen dafür zu begeistern.

Gibt es ein Patentrezept für den Weg der klassischen Musik aus der Krise? Aber gibt es überhaupt eine Krise? Oder ändern sich nur die Gewohnheiten der Musikfreunde? Spontankonzertbesucher statt treue Abonnenten, mehr Vielfalt im Freizeiterleben statt Konzentration auf wenige Unternehmungen? Tradition oder Experimentierfreudigkeit bei der Programmgestaltung? Wie kann man mehr Kinder und Jugendliche nachhaltig für die klassische Musik begeistern, so dass sie auch als Erwachsene Konzerte besuchen? Und: Wie aktuell ist die klassische Musik überhaupt? Fragen wie diese waren Themen der angeregten und durchaus kontrovers geführten Podiumsdiskussion des DONAUKURIER und der Alf-Lechner-Stiftung, die im Vorfeld der Audi-Sommerkonzerte, die an diesem Samstag beginnen, im Alf-Lechner-Museum in Ingolstadt stattfand.

Moritz Eggert, Komponist und Professor an der Hochschule für Musik in München, äußerte die radikalsten Ideen und Thesen. Er stellte leidenschaftlich und durchaus provokant den gängigen Konzertbetrieb und den Umgang mit klassischer Musik in Frage. Die Traditionen von Musik und Musikerleben hätten sich immer wieder gewandelt, "wir hingegen haben seit 150 Jahren nichts verändert", sagte er. "Da ist was faul. Das müssen wir überdenken. Wir dürfen diesen Zeitpunkt nicht verpassen."

Er konstatierte einen Relevanzverlust der (klassischen) Musik. Diese sei früher stets auch gesellschaftlich verortet gewesen und habe außerdem durchaus auf Strömungen und Tendenzen in der Gesellschaft reagiert. "Die klassische Musik muss wieder Teil des Lebens sein und muss eine Funktion mitten im Leben haben", forderte Eggert. Musik sei auch kein Luxus, sondern ein Menschenrecht. "Man müsse wieder "mehr an der Zeit lauschen", sich Stimmungen öffnen. Eggert stellte die These auf, dass andere Künste in diesen schnellen Zeiten dies möglicherweise besser könnten, weil sie unmittelbarer reagieren, während die Prozesse in der klassischen Musik, etwa bei Neukompositionen langsamer seien.

Bestenfalls hätte klassische Musik den Stellenwert wie Fußball in Brasilien. "Fußball ist dort allgegenwärtig, und deswegen gibt es dort auch immer wieder großartige Nachwuchsfußballer."

Eine Erstarrung des Musik- und Konzertbetriebs kann Karin Rawe, die statt des Musikers Andreas Martin Hofmeir, der aus persönlichen Gründen absagen musste, auf dem Podium saß, nicht erkennen. Die Generalsekretärin des Bayerischen Musikrats, die eher einen Rückgang der Abozahlen aber nicht der Konzertbesucher sieht, zeichnete ein positives Stimmungsbild. Sie nannte etwa die steigenden Zahlen von Kindern und Jugendlichen in Musikschulen, in Schulorchestern und anderen Gruppen sowie die Neugründungen von Musikschulen. Probleme gebe es konkret bei der Förderung der Musikschulen und bei den traditionellen Chören. Projektchöre hingegen stünden besser da.

Rawe, die lange Jahre Geschäftsführerin des Würzburger Mozartfestes war, warnte auch davor, "alles zu verteufeln, was wir haben". Vielmehr gehe es darum, stetig und immer wieder neue Wege zu gehen. Weiterhin neue Orte für Konzerte zu finden, neue Formate anzubieten, Jugendliche und Kinder zum Mitmachen zu animieren, Konzertpatenschaften zu initiieren, Brücken in der musikalischen Erziehung zu bauen. "Teilhabe aller an Musik ist wichtig." Und die ausgebildete Hornistin animierte dazu, ihrem Beispiel zu folgen: "Nehmen Sie Familienangehörige oder Freunde einfach mit in die Konzerte." Jeder, der Leidenschaft für die klassiche Musik habe, könne diese auch konkret weitergeben. "Man hat sogar die Verantwortung dafür."

Von der Insel der Glückseligen berichtete Nikolaus Pont. Der Manager des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks hat keine Aboverluste für sein Orchester zu beklagen, hat aber die Entwicklungen in der Branche, den Konzertbetrieb und die Veränderungen der Besuchergewohnheiten klar im Blick. Auf die Frage des Moderators Jesko Schulze-Reimpell, Leiter der Kulturredaktion des DONAUKURIER (kleines Foto), ob die Programmgestaltung "eine Gratwanderung zwischen Neuerung und Experimentierfreude und Tradition" sei, berichtete er aus seiner langjährigen Erfahrung. "Es kommt auf die richtige Mischung an." Er habe aber zu seiner Freude festgestellt, "dass nicht nur Neue Musik begeistert, sondern dass auch ältere unbekannte Stücke das Publikum faszinieren". Er sei sich sicher, dass Menschen Neues und besondere Momente erleben wollen. "Das ist die Herausforderung für uns alle."

Der These Eggerts, den Konzertbetrieb ändern zu müssen, wollte er in der Absolutheit nicht folgen. Dennoch müsse man, etwa beim Bau des neuen Konzerthauses in München, durchaus über Tradition, Rituale, Grenzbereiche nachdenken. "Das ist nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine Verpflichtung, zu überlegen, wie man wo mit welchen Musikern in welcher Kleidung und in welchen neuen Formaten Konzerte gibt." Er brach aber auch eine Lanze für das Selbstbewusstsein der Musiker und des Musikbetriebs. "Wir bieten etwas an, wo man zwei Stunden entspannen kann. Zwei Stunden, in denen Musik die Zeit vorgibt. Wir haben eine Qualität, mit der wir auch gewinnen können."

Die Relevanz von klassischer Musik, die Eggert anmahnte, beschränkt sich für Pont auch nicht in der Zahl der Konzertgänger oder in der lebenslangen Begeisterung für klassische Musik. Man könne Kindern und Jugendlichen nicht genug musikalische Unterstützung bieten und in jungen Jahren dafür begeistern und die Kreativität fördern. "Vielleicht drückt sich diese Erfahrung dann auch in anderen für die Gesellschaft relevanten Tätigkeiten und Biografien aus."

Einen wichtigen Weg, mögliche Hürden und Berührungsängste mit klassischer Musik abzubauen, sieht er darin, die Unnahbarkeit der Interpreten zu veringern. "Ich sage immer: Sprecht mit dem Publikum!" Unvergessliches Beispiel ist ihm ein Konzert mit dem schwedischen Stardirigenten Herbert Blomstedt, als dieser in einer Umbaupause das Publikum von der Bühne aus minutenlang und in einer regelrechten Performance unterhalten und für das nachfolgende Stück begeistert hat.

Eva-Maria Atzerodt, Musiklehrerin, Vorsitzende des Konzertvereins Ingolstadt, Leiterin mehrerer Chöre und CSU-Stadträtin, will die Situation der Klassik nicht so schwarz sehen, wie sie häufig gemalt wird. Konkret für Ingolstadt und auf den Konzertverein bezogen, hätte sich das Angebot an klassischer Musik in der Stadt stark erweitert. Von den Sommerkonzerten über die städtischen, teils kostenlosen Angebote wie die Mittwochklassik bis zu den Konzerten des Georgischen Kammerorchesters (GKO). Sie glaube nicht, dass sich weniger Leute in der Stadt für Klassik interessieren. "Es verteilt sich nur anders." Als es nur den Konzertverein gab, ja, da habe es Wartelisten mit 200 Leuten für das Abonnement gegeben. "Aber Konzerte mit 750 Besuchern finde ich jetzt auch durchaus zufriedenstellend." Und grundsätzlich gebe es heutzutage ein größeres Freizeitangebot. "Das spreizt sich noch mehr auf."

Die Neugierde und Freude der Konzertbesucher an neuen oder unbekannten Stücken und Neuer Musik sei jedoch vorhanden. "Es gibt eine erfreulich größere Akzeptanz für zeitgenössische Musik."

Auf die Frage von Jesko Schulze-Reimpell nach der finanziellen Unterstützung von Kultur, im Besonderen von Musik in der Stadt, äußerte sich Eva-Maria Atzerodt diplomatisch. "Es wäre sicherlich wünschenswert, dass mehr Geld zur Verfügung gestellt würde", sagte sie. Aber man könne bei einem großen Stadtrat nicht immer alle von der Notwendigkeit für Kunst und Kultur und der Dringlichkeit überzeugen. "Wir wollen uns nicht beschweren, aber es ist manchmal besser, selbst aktiv zu werden und die Kinder und Jugendlichen mitzunehmen, als zu hoffen und zu warten, bis die Politik Ja und Amen sagt."

Ein positives Beispiel, wie Musik, wie ein Orchester eine Stadt verändern könne, sei die Geschichte des GKO. Seit der Gründung des Klangkörpers - "ein Zugewinn für Ingolstadt" - habe es einen Schub gegeben, auch bei den Kindern und Jugendlichen, die von den Musikerinnen und Musikern unterrichtet worden seien. "Da sind viele Talente entdeckt worden", sagte Atzerodt. Karin Rawe schloss sich dieser Meiunung an. Sie lobte das GKO als "Schmuckstück der Stadt", kritisierte aber die finanzielle Situation des Klangkörpers und seiner Musiker. "Die ist nicht zufriedenstellend." Letztlich könne diese Schieflage einmal die Nachwuchssuche erschweren und den Bestand des Orchesters gefährden. "Es geht hier um die Wertschätzung und die Akzeptanz des Orchesters in der Stadt."

In der anschließenden Diskussion ergaben sich weitere interessante Aspekte. Bereits gelebt werden Besuche von Laien- und Profimusikern in unterschiedlichen Einrichtungen. Eine große Bedeutung hätten inzwischen auch Konzerte für Demenzkranke und ihre Angehörigen, wie gleich mehrere Besucher berichteten. Eine Möglichkeit, als Bewohner eines Seniorenheims, Konzerte besuchen zu können, wünschte sich ein älterer Herr aus Ingolstadt. "Das ist schwierig." Und meinte dabei auch die Wege oder die Begleitung im Konzert. Eine Besucherin bestärkte ihn in seinem Ansinnen. "Es geht darum, allen, auch den älteren Menschen, eine Teilhabe am öffentlichen Leben - und dazu gehören auch Konzerte - zu ermöglichen."

In einem waren sich auf dem Podium alle Teilnehmer einig: Es braucht Leidenschaft und Begeisterung. Und es braucht Menschen, die andere für klassische Musik begeistern, die gar eine Vorbildfunktion haben können. Seien es Eltern, Freunde, Persönlichkeiten, Lehrer. Und bestenfalls gibt es Schlüsselmomente. Etwa die erste Freundin, die Nikolaus Pont dazu veranlasst hat, auch in deren Chor singen zu wollen. Oder die Klavierstunden mit sechs Jahren im Hause Atzerodt in Ingolstadt. Oder Carl Maria von Webers Freischütz als Freilichtspektakel, wie Karin Rawe, die auch in der Blaskapelle in ihrem Heimatdorf mitgespielt hat, erzählt. "Das hat mich damals in eine andere Dimension geflasht und weit darüberhinaus. Das war eine andere Lebensqualität. Es ist einfach wunderbar, wie klassische Musik die kleinsten Nuancen menschlicher Regungen abbilden kann."

Katrin Fehr