Ingolstadt
Musikalisches Experimentierfeld

Mit einem mutigen Abend im Digitalen Gründerzentrum Brigk gehen die Ingolstädter Jazztage 2018 zu Ende

20.11.2018 | Stand 23.09.2023, 5:01 Uhr
Ganz neue Form des Playback: Tobias Siebert im Brigk. −Foto: Weinretter

Ingolstadt (DK) Am Beginn des Konzerts hört man zunächst nichts.

Keine Musik, nicht einmal einen einzigen Ton. Nur dieses feine, leise Knistern, wenn die Nadel in den ersten Leerrillen über kleine Kratzer auf der Schallplatte gleitet.

Für manch Jüngere unter den Besuchern des Abschiedskonzerts der Jazztage vermutlich ein seltenes Hörerlebnis. Für die älteren Zuhörer im Digitalen Gründerzentrum in der Stadtmitte dagegen eine Erinnerung an längst vergangene Jugendzeiten. Als es noch keine Kassetten oder CDs gab, von Musik aus dem Internet ganz zu schweigen. Für Tobias Siebert alias And The Golden Choir bedeuten Schallplatten dagegen viel, viel mehr: Sie sind Strukturelemente und gleichsam seine Band. Nicht irgendwelche Alben freilich, sondern die, die er selber produziert.

"Ich will ja nicht als Multiinstrumentalist auf der Bühne stehen", sagt der gebürtige Ost-Berliner. Der 42-Jährige nimmt seine Schallplatten vorher auf: Schlagzeug, Keyboard, 2. Stimme, was er eben gerade benötigt. Wenn er live auf der Bühne steht, singt er dazu und spielt mit Gitarre, Flöte, Keyboard oder Leierkasten. Er begleitet sich gleichsam zweimal selbst, mit Platte und mit verschiedenen Instrumenten.

Es ist ein Spiel mit verschiedenen Ebenen, ein Bruch mit überlieferten Hörgewohnheiten und ein Abschied von musikalischen Konventionen und Traditionen. Der Begriff Playback gewinnt hier eine völlig neue Qualität, ist keine Notlösung für billige Pseudo-Livekonzerte oder zum Kaschieren von musikalischen Unzulänglichkeiten. Live und Playback ergänzen sich bei Tobias Siebert auf eine spannende Art und Weise. Die anfängliche Irritation des Hörers ist bewusst kalkuliert: Wo kommt welcher Akkord jetzt her? Live oder von Platte? Kongenial dazu die Musik, oft melancholische, manchmal traurige Lieder, bisweilen zum Weinen schön. Und eine Stimme, die Gefühle und Stimmungen transportiert und den Zuhörer ganz tief berührt - wenn er es denn nur zulässt.

Einen Auftritt wie den von Tobias Siebert alias And The Golden Choir hört man nicht alle Tage. Und der Musiker, Komponist und Produzent schafft es, nach dem Konzert tatsächlich noch eins draufzusetzen. Bei der unvermeidlichen Frage nach den musikalischen Wurzeln und Einflüssen etc. Da nennt Tobias Siebert doch tatsächlich (Stichwort Experimentierfeld) Talk Talk! Diese britische New-Wave- und Synthie-Pop-Band aus den längst vergangenen 80ern, die mit "Such A Shame" einen Welterfolg hatte. Doch Sänger Mark Hollis wandte sich Ende dieses Jahrzehnts der musikalischen Avantgarde zu und legte mit "Spirit Of Eden" und "Laughing Stock" zwei stilistisch kaum einzuordnende, äußerst progressive Meilensteine des später so genannten Post-Rock vor.

Nach dem Ohrenschmaus eine Augenweide. Der Videokünstler Esteban Nunez verwandelt das Brigk in eine Sinfonie der Sinne, in ein irreales Zusammenspiel von Musik, Bewegung und Bildern. Der Auftritt von Aya Sone allein wäre es wert gewesen, dieses letzte Konzert der Jazztage 2018 zu besuchen. Sie lotet das Spannungsfeld zwischen der Kontrolle des Körpers und der Hingabe in der Bewegung aus. Es wird nichts erklärt, die Verknüpfung dessen, was auf der Bühne passiert und dem, was der Tanz zum Ausdruck bringen soll, bleibt allein dem Zuschauer überlassen. Der wiederum befindet sich in einer Art Paralleluniversum, wenn Esteban Nunez die kahlen Betonwände des Brigk in einen Kunstraum verwandelt. Der Lichtdesigner nimmt die Bewegungen der Tänzerin auf, verfremdet sie auf unterschiedliche Weise und nutzt den Raum als Projektionsfläche dafür. Die Musik zu "into a digital forest" kam von Niko Shamugia.

Der Tanz erscheint so gleichsam auf einer zweiten Ebene, fast als eine Art elektronisches Schattenspiel plus choreografierte Videoeffekte.

In die Realität werden die Besucher mit dem Auftritt von Mickey zurückgeholt. Das Duo aus Österreich pflegt den tanzbaren Minimalismus. Nichts wirkt hier großartig durchdacht, reflektiert oder komponiert. Soll es vermutlich auch nicht. Das Electropopprojekt ist ein musikalischer Ausdruck der Gegenwart, des Unmittelbaren. Am besten drücken es Sänger Alex Konrad und Keyboarder Klemens Wihlidal selber aus: "Die Begrenzung der Mittel als künstlerische Antwort auf unbegrenzte digitale Möglichkeiten. Das Minimale und Abgespeckte als künstlerische Reaktion auf den Überfluss. Das Unmittelbare und Banale als Starting-Point, anstatt der großen Idee. Gerade die Skizze, die erste Idee, ist der Impuls für die Musik von Mickey. "

Der Zuschauer wird Teil der Performance, versprach Matthias Neuburger vom Kulturzentrum neun vor dem Abschlusskonzert der Jazztage. Und man wisse nie, was im Digitalen Gründerzentrum herauskommt, sagte Geschäftsführer Franz Glatz vor dem Konzert. Das Brigk, wie es sich nennt, sei ein Experimentierfeld. Beide sollten recht behalten. Und das Experiment bitte bei Gelegenheit wiederholen.
 

Bernhard Pehl