Ingolstadt
Die "Eroica" im XXL-Format

Grandioser Auftakt: Dirigent Manfred Honeck und die Bamberger Symphoniker eröffnen die Audi-Sommerkonzerte

30.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:51 Uhr

Musik mit großer Geste: Manfred Honeck dirigiert die Bamberger Symphoniker. - Foto: Sauer

Ingolstadt (DK) Wie sollte ein Musikfestival beginnen? Am besten ohne Musik. In atemloser Stille. Als der Dirigent Manfred Honeck (58) am Donnerstagabend um kurz nach acht Uhr abends im Ingolstädter Festsaal die Arme zum ersten Einsatz hob für das Auftaktkonzert der Audi-Sommerkonzerte, als er noch einmal in die Runde seiner Musiker der Bamberger Symphoniker blickte, erwartungsvoll, konzentriert, da genau existierte dieser geheimnisvolle Moment vollkommener Lautlosigkeit, in der selbst das Publikum den Atem anzuhalten schien.

Um der Musik Raum zu geben: einem Ton, der scheinbar aus dem Nichts auftauchte, ein schimmerndes, kaum hörbares B der ersten Violinen, mit dem Samuel Barbers Trauermusik "Adagio for Strings" anhebt.

Ein solch magischer Beginn ist entscheidend für den Start eines Musikstücks, vielleicht sogar als Ausgangspunkt für ein ganzes Festival. Von diesem magischen Nullpunkt aus kann sich Musik zu unerwartetem Höhenrausch entfalten. Und gerade dafür hatte Honeck hervorragende Voraussetzungen geschaffen. Denn er hat das berühmte Orchester aus Bamberg in riesiger Besetzung anreisen lassen. Allein 14 erste Geigen formten die Hauptstimme an diesem Abend, sechs Kontrabässe erdeten das musikalische Geschehen. Und Honeck nutze die Möglichkeiten dieses fantastischen Orchesters. Er überschüttete das Publikum erst mit hauchfeinen silbrigen Tönen, dann knetete er die Streichermassen, als wären sie formbares Material, ließ die Klänge wellenförmig in den Saal schweben, an Substanz zulegen, bis der Klagegesang sich zur gleißenden Verzweiflungsmusik in den hohen Lagen steigerte - um dann abzureißen, erneut in einer vor Spannung bebenden, endlosen Pause. Als das Adagio schließlich verklang, entstand sie wieder, diese Stille des Anfangs, und es dauerte lange, bis das Publikum, sehr zaghaft zunächst, zu applaudieren begann.

"Individuum und Gemeinschaft" lautet heuer das Motto der Audi-Sommerkonzerte - eine Formulierung, die so allgemein ist, dass sie sich wahrscheinlich auf jedes beliebige Musikstück beziehen lässt. Und doch lenkt dieses Leitwort die Aufmerksamkeit auf einen für die Musik wesentlichen Prozess: den Zusammenhang von Musiker und Zuhörer, von Orchester und Publikum. Wenn ein Konzert wirklich einzigartig gelingt, dann wirkt kaum merklich auch das Publikum daran mit. Indem es diese spannungsgeladene Ruhe erzeugt, indem es spürbar mitgeht, sich fesseln lässt, sich bewegen lässt und die Musiker bewegt. Ein außergewöhnlicher, übermusikalischer Akt des Zusammenwirkens, wie er wundersam beim einleitenden Adagio von Barber gelang.

Es gibt allerdings auch Werke, auf die das Festival-Motto geradezu hervorragend passt - etwa die "Sinfonie Concertante" von Joseph Haydn, das zweite Werk am Eröffnungsabend. Denn hier treten gleich vier Instrumente solistisch dem Orchester gegenüber. Honeck besetzte sie durchweg mit Musikern seines Orchesters, vielleicht um eine sonst kaum denkbare Souveränität des Musizierens zu ermöglichen. Und genau dieses höchst fantasievolle Zusammenspielen war es, was an diesem Abend so faszinierte. Denn schier unendliche Möglichkeiten der Kombinationen ergaben sich. Die Solisten konnten (wie zu Beginn des langsamen Satzes) wie ein Kammermusikensemble vorgehen oder solistisch hervortreten, die Orchestermotive imitieren und virtuos verzieren, sie konnten arienhaft oder in einer Art Rezitativ dem Orchester gegenübertreten, Kadenzen mit langen synchronen Trillern ausklingen lassen, mit dem Orchester spielen oder dagegen, einzeln und vereint, als "Individuum und Gemeinschaft".

Aber nach der Pause wurde das Konzert sogar noch eindrucksvoller mit Beethovens "Eroica". In den vergangenen Jahrzehnten hat sich durch die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis viel verändert in unserer Vorstellung der Beethoven-Sinfonien. Kleine Ensembles spielen immer häufiger diese Werke mit dem rauen Klang der historischen Instrumente und den eiligen Tempi entsprechend Beethovens Metronomangaben - zuletzt etwa René Jacobs beim Konzertverein die 1. Sinfonie von Beethoven. Andere Dirigenten übernehmen die Erkenntnisse der Forscher, verwirklichen sie aber, soweit es geht, mit einem modernen Sinfonieorchester. Zu ihnen gehört Manfred Honeck.

Beethovens dritte Sinfonie hat der gebürtige Österreicher geradezu im XXL-Format besetzt. Aber die Bamberger spielen so hervorragend, dass von der Gefahr der philharmonischen Trägheit, der Ungenauigkeit im Ausdruck nichts zu spüren war. Die Bamberger musizierten spontan, feurig, vor allem tänzelnd, als wären sie Kammermusiker. Jedoch im Format der Übergröße. Denn Honeck ging es in seiner Darstellung um orchestrale Erschütterung. So laut, so krachend, so dynamisch, dabei so rasant und temperamentsgeladen kann man die Sinfonie nur selten hören. Das plötzliche Anschwellen der Streicher, die knallenden Paukenschläge wirkten im Kopfsatz vielleicht noch etwas überdynamisch. Aber im "Marcia funebre" ist keine dynamische Steigerung, keine Fugenekstase groß genug für diese alles zermalmende Musik. Ein verblüffendes Erlebnis! Ebenso die beiden letzten Sätze, die Honeck eher nicht übertrieben schnell nahm, vielleicht um sie nicht zur überhitzten Karikatur werden zu lassen. Mit einer solchen Deutung verändert Honeck unsere Vorstellung von Beethovens Bonaparte-Sinfonie. Die Gewalt, die Tragik und der Erlösungsjubel des Endes bleiben erhalten, aber das alles wird weniger hehr und erhaben zelebriert, kommt vielmehr tänzelnd, walzerselig-wienerisch daher: Ein ganz neuer Heroismus.