Ingolstadt
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"Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor": Martin Baltscheits preisgekröntes Bilderbuch als Kinderoper am Stadttheater Ingolstadt

09.03.2014 | Stand 02.12.2020, 22:58 Uhr

Da ist die Welt noch in Ordnung: der Fuchs (Tero Hannula) und sein Mittagessen (Sarah Hudarew, Tibor Brouwer und Kristi Anna Isene, von links). Intendant Knut Weber brachte Martin Baltscheits Bilderbuch über Demenz auf die Bühne des Kleinen Hauses - Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) „Kann sich denn ein Fuchs nicht von Krautsalat ernähren“, fragt der Hahn verdrießlich. Er räkelt sich auf dem Liegestuhl, pickt gelegentlich ein Korn, schwatzt mit seinen Hühnern und seufzt. „Es wär so schön, es gäb den Fuchs nicht auf dem Hof.“ Nur Minuten später ist er tot – wie seine Hühner. Die – so kichern die jungen Füchse – sind sowieso „so doof wie Staub im Hof“. Leichte Beute also. Noch dazu für einen Meisterdieb. Der Fuchs triumphiert und lässt sich bewundern. Noch strotzt er vor Kraft, List, Abenteuerlust und Charme. Doch bald ist das vorbei. Der Fuchs wird älter, graubärtig, langsam und krank. Zuerst ist er nur ein bisschen schusselig: Er vergisst einen Gedanken – oder das Jagen auf der Jagd. Doch irgendwann findet er den Weg nach Hause nicht mehr, versäumt zu essen, kann Freund und Feind nicht mehr auseinanderhalten – und verdämmert in eine Welt alptraumhafter Ungewissheiten.

„Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor“ hat Martin Baltscheit sein berührendes, preisgekröntes Bilderbuch genannt, in dem er das Thema Demenz poetisch und vor allem kindgerecht erklärt. Das Stadttheater Ingolstadt hat die Geschichte nun als Kinderoper (ab sechs Jahren) auf die Bühne gebracht. Der Autor selbst schrieb das Libretto, die Komponistin Sandra Weckert die Musik. Uraufführung war am Freitagabend. Nach 70 Minuten voller Theatermagie tobte das Kleine Haus!

Regisseur Knut Weber hat Martin Baltscheits überaus gewitzte und köstlich gereimte Bühnenfassung in eine lebendige Bildsprache übersetzt. Diese Kinderoper betört durch Opulenz in jeder Hinsicht. Wer den Zuschauerraum betritt, ist schon allein von Susanne Hillers Bühnenbild entzückt: Die Natur ist hier eine Installation aus Obstkisten, die mal Wald, mal Kirche sein kann. Links vorne der Fuchsbau: eine Art Kiosk in einem Baum aus schmalen Holzpaneelen, samt Dachterrassen-Ast und Festbeleuchtung. Rechts hinten: ein angedeuteter Fluss aus Holzschnitzeln, die zum Podest für die Musiker führen. Die tragen alle Fuchsohren. Und Johannes Merkle, der musikalische Leiter der Produktion, dirigiert zuweilen mit einer Mohrrübe.

Ja – die Musik von Sandra Weckert: Das sind eingängige Melodien, die geschickt verschiedene Musikstile und Rhythmusspielereien mischen, mal Kinderlieder zitieren, dann wieder nach Jazz oder Polka klingen. Rasant und wild tönt das zunächst in allen Lebenslagen, als der Fuchs noch ein tollkühner Abenteurer ist: rot und schnell und immer hungrig. Doch je älter der Fuchs wird, je vergesslicher, ja auch aggressiver, desto dissonanter klingt es. Motive und Töne überlagern und verschleifen sich, geraten aus dem Takt. Das langsame Verglühen des Verstandes, das Entschwinden der Persönlichkeit, der Schmerz darüber – all das spiegelt Sandra Weckerts Musik in kongenialer Weise wider. Und das Quintett des Georgischen Kammerorchesters setzt sie sensibel und mit großer Spielfreude um. Dazu zaubert Oliver Prechtl mit Live-Elektronik. Immer im Dienste der Sänger.

Eine formidable Formation hat Regisseur Knut Weber engagiert: Der finnische Bariton Tero Hannula gibt einen vorzüglichen Titelhelden: dandyhaft, großspurig, aber warmherzig den jungen Füchsen gegenüber. Die Sopranistinnen Berit Barfred Jensen und Kristi Anna Isene, die Mezzosopranistin Sarah Hudarew und der Bariton Tibor Brouwer teilen sich alle anderen Rollen. Sie bilden nicht nur die verschworene Gemeinschaft der jungen Füchse, sondern sind auch Hase, Gans, Ziege, Amsel oder Hund. Und sie können nicht nur ausdrucksstark und textverständlich singen, sondern auch wunderbar facettenreich spielen.

Denn auch die herrlich komischen Details sind es, die diese Inszenierung zu einem fantastischen Erlebnis für alle Sinne machen. Die kleinen und großen Gesten, die kecken Ideen, die Zeichentrickeinspielungen, die etwa die Bühne in einen Fluss voller bunter Fische verwandeln (Video-Animation: Eva Becker) – und die hinreißenden Kostüme von Katrin Wolfermann.

Eine wahre Künstlerin ist hier am Werk. Wolfermann hat das gesamte Ensemble in Kleider, Röcke, Anzüge, Hemden, Shirts, Hosen gesteckt, die alle Farben zwischen Rotbraun und Braunrot abdecken: Hier ein Fuchsemblem auf der orangefarbenen Trainingsjacke, da rote Stiefelchen, dort braun-braune Anzugkaros. Für jedes Tier hat sie zusammen mit der Maskenabteilung des Stadttheaters wunderschöne Köpfe gebaut. Überdimensionale Fuchsköpfe, am Original orientiert und doch puppig mit großen Augen und kecken Näschen, Sympathieträger, die in jedem Kinderzimmer willkommen wären. Dazu Hühner-, Hasen-, Ziegen-, Hunde-, Schafsmasken und düs-tere Geisterfüchse aus Papier.

Denn auch diese Seite erlebt man hier: das Dunkle, Bedrohliche, Bestürzende, das Verdämmern ins Vergessen, das gestohlene Leben. Doch Knut Weber wahrt in seiner Inszenierung eine kluge Balance. Der Schrecken wird nie verharmlost, aber immer aufgefangen. Das macht es den jungen Zuschauern leichter, sich auf diese ernste Geschichte einzulassen. Und wenn am Ende der Fuchs seinen Verstand verliert – Tero Hannula spielt ihn tatsächlich „kopflos“ und so, dass es einem fast das Herz zer-reißt –, dann ist er zumindest geborgen in der Gemeinschaft der Füchse.

Diese Kinderoper ist ein wahrhaft großer Wurf des Stadttheaters Ingolstadt. Fortsetzung unbedingt erwünscht!