Idylle zwischen Kühen und Klassik-Stars

Vor mehr als 60 Jahren hat sich der legendäre Geiger Yehudi Menuhin in den märchenhaften Ort Gstaad verliebt und dort ein Festival gegründet. Heute strömen jährlich 20000 Musikfreunde in den Ort, um einige der größten Künstler zu hören. <?MAK TagName="Uni" Vorschub="16dp" SchriftStil="0" SchriftGroesse="8,4dp" EinzugAbsatz="0ru" SchriftArt="ITC Franklin Gothic Book"> Von Jesko Schulze-Reimpell<?_MAK> <?ZE>

16.09.2018 | Stand 02.12.2020, 15:40 Uhr
Yehudi Menuhin begeisterte sich besonders für die hervorragende, überaus klare und warme Akustik in der Kirche in dem kleinen Ort Saanen. −Foto: Gstaad Saanenland Tourismus

Vor mehr als 60 Jahren hat sich der legendäre Geiger Yehudi Menuhin in den märchenhaften Ort Gstaad verliebt und dort ein Festival gegründet. Heute strömen jährlich 20000 Musikfreunde in den Ort, um einige der größten Künstler zu hören.

Gstaad (DK) Der Satz, den man in Gstaad wahrscheinlich am häufigsten hört, geht ungefähr so: "Im Tal hier leben genauso viele Kühe wie Menschen." Etwa 7000 sind es, das kleine Städtchen Gstaad selbst hat sogar nur knapp 1000 Einwohner.

Die Zahlenspiele sind verblüffend, sie sind ein Kennzeichen der Identität des Ortes. Denn Gstaad gilt längst neben St. Moritz als der am meisten gehypte Touristenorte der Schweiz. Dabei legt Gstaad doch großen Wert darauf, seine "Seele", seinen ursprünglichen, landwirtschaftlichen Charakter zu bewahren. Man tut alles dafür, den Spagat zwischen mondänem Touristenparadies und urwüchsigem Bergort zu erhalten.

Aber das ist natürlich nicht leicht. Die rund 200 Landwirte der Region (in St. Moritz sind es übrigens nur noch zwei) werden gehätschelt und gepflegt, vor allem aber mit hohen Subventionen am Leben erhalten. Fremdenführerin Claudia von Siebenthal, die einer alteingesessenen Gstaader Familie entstammt, erzählt gerne vom Gesinnungswandel der Talbewohner. "In meiner Schulzeit blickten viele von uns in der Schule noch herab auf die Bergbauern, inzwischen zählen sie zu einem angesehenen Kulturgut der Region." In den Geschäften werden spezielle schmackhafte Gstaader Käsesorten an die Touristen verkauft. Und, natürlich, die Kühe stehen nicht ganzjährig im Stall wie zumeist in Deutschland, sondern weiden auf den zahlreichen traumschönen Almen.

Konserviert wird die Identität des Ortes auch durch regide Bauvorschriften. Bereits seit den 1960er-Jahren dürfen Häuser nur noch in traditioneller Chalet-Bauweise errichtet werden, mit viel Holz und überhängenden Dächern. Claudia von Siebenthal macht sich einen Spaß daraus, Gäste zu einigen dieser Häuser zu führen und deren Alter schätzen zu lassen. Die Überraschung ist regelmäßig groß, dass die Chalets nicht jahrhundertealt sind, sondern erst seit etwa fünf Jahren im Tal stehen. Verblüffend für Besucher ist aber, dass man im gesamten Saanenland nicht ein einziges geschmackloses oder hässliches Haus findet, keine belanglosen Vorstädte im italienischen Stil, keine sterilen Gewerbegebiete.

Man weiß offenbar in Gstaad, worauf der beträchtliche Wohlstand der Region beruht. Und man weiß auch, dass das alles nicht immer so war. Claudia von Siebenthal erzählt gerne davon, dass das Saanenland einmal geradezu bedrückend arm war. "Ich habe viele Verwandte", erzählt sie, "aber sehr viele von ihnen leben im Ausland." Die Ursache ist eine Migrationswelle Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Armuts-Exodus, der erst endete, als um 1900 herum die Gegend vom Tourismus entdeckt wurde. Wichtig war in diesem Zusammenhang besonders die Einrichtung der Eisenbahnstation 1904. Von da ab ging es wirtschaftlich steil bergauf für das Saanenland. Denn die Einwohner erkannten schnell das Potential der Region. Geradezu legendär und wegweisend war der Bau des Luxushotels "Palace", das in überirdischem Jugendstil-Glanz wie eine Burg über den geduckten Holzhäusern von Gstaad thront. 1913 begann der Hotelbetrieb, und bis heute gehört es zum guten Ton der feineren Gesellschaft, den Urlaub mit einem Cocktail im Hotelfoyer zu eröffnen. Das Hotel ist Kult und identitätsstiftend. Und wahrscheinlich zog allein die Existenz dieser ersten Adresse für den internationalen Jetset der Gutbetuchten zahlreiche weitere herausragende Lokalitäten in die Region. Im Umfeld des kleinen Gstaad gibt es heute nicht weniger als sechs Fünf-Sterne-Hotels und drei mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Restaurants.

Kein Wunder, dass die Prominentendichte in dieser Region locker mit Paris oder London mithalten kann. Madonna kann man hier beim Skifahren erleben, Bernie Ecclestone besitzt ein Chalet, und Roger Moore oder Valentino bummeln durch die Einkaufsmeile des Ortes. Sie alle lieben den Ort, weil man hier nicht von Autogrammjägern belästigt wird. Und weil es viel zu erleben gibt: Regelmäßig findet hier ein ATP-Tennistournier statt, und Gstaad ist seit rund 20 Jahren auch eine Hochburg des Beach-Volleyballs.
Der für Gstaad wahrscheinlich wichtigste Prominente war allerdings Yehudi Menhuin, der sich 1956 in die Region verliebte. Hier fand er, was er brauchte: unbelastete Naturschönheit, in Saanen eine kleine Kirche mit fantastischer Akustik. Und eine hervorragende Schule für seine Kinder: das Institut Le Rosey, dessen Schüler halbjährig dort residieren. Le Rosey gilt als eine der besten Schulen der Welt und ist definitiv die teuerste: Das Schulgeld beträgt knapp 100 000 Euro im Jahr.

1957 gründete Menuhin ein Musikfestival, das bis heute maßgeblich den Charakter des Saanenlandes prägt. Im ersten Jahr wurden zwei Konzerte angeboten, es spielten einige enge Freunde von Menuhin. Inzwischen zählt das Festival rund 20000 Besucher. Besonders seit 2002 der Kulturmanager Christoph Müller die Leitung von Gidon Kremer übernommen hat, blüht die Musikreihe auf. Seitdem verdoppelte sich die Besucherzahl.

Müller betont im Gespräch mit unserer Zeitung, dass "die Einmaligkeit der Verbindung von schöner Natur und hochwertigen Konzerten" den Erfolg des Festivals ausmache. Aber dieser Gedanke greift zu kurz, um den besonderen Charakter des Menuhin-Festivals zu ergründen. Denn Müller profiliert sein Festival mit ungewöhnlichen und einzigartigen Programmpunkten. So gibt es einen Dirigentenmeisterkurs, der vom neuen Chef der New Yorker Philharmoniker Jaap van Zweden geleitet wird. Außerdem bietet das Festival zahlreiche Jugendkonzerte und ein Jugendorchester an. Und: Es gibt ein Amateurorchester mit hundert Musikern, bei dem jeder mitmachen kann, der sich rechtzeitig anmeldet. "Inzwischen ist das Orchester total überrannt", erzählt Müller.

Müller gelingt es aber auch, fast durchweg die besten und prominentesten Klassik-Künstler ins Saanenland zu holen, die überhaupt zu bekommen sind. Allein in diesem Jahr traten Janine Jansen, Helene Grimaud, Juan Diego Flóres und Jonas Kaufmann auf. Frank Peter Zimmermann, vielleicht der beste Geiger unserer Zeit, spielte in der kleinen, intimen Kirche in Zweisimmen Beethoven-Sonaten. So hautnah kann man Stars sonst kaum erleben. Und tags darauf konnte man das Mariinsky-Orchester aus St. Petersburg unter der Leitung von Valery Gergiev hören, Solist war Denis Matsuev. Und: Müller legt offenbar Wert darauf, dass gängiges Repertoire geboten wird: in diesem Fall die "Alpensinfonie" von Richard Strauss und das b-Moll-Klavierkonzert von Peter Tschaikowsky.
Aber bei diesem Konzert traten auch die Schwächen des Festivals offen zu tage. Denn für symphonische Konzerte findet sich in der Region kein geeigneter Saal, das Festival muss mit einem Zelt vorliebnehmen - mit allen damit verbundenen akustischen Mängeln. Tatsächlich ist vom edlen Klang der Mariinsky-Musiker im breiigen Einerlei der Zeltatmosphäre nur wenig zu spüren. Kaum zu glauben, dass man in einer derart reichen Region, für ein so prominentes Festival nach über 60 Jahren keine passendere Lösung hat finden können.

Aber es bewegt sich etwas. Seit Jahren wird über den Bau eines Konzertsaals im Umfeld des kleinen Bahnhofs nachgedacht. Der prominente französische Architekt Rudy Ricciotti hat ein futuristisches Kulturzentrum entworfen, das außen wie eine Papierfaltung oder ein stilisierter Baumstrunk und innen wie eine Kristallhöhle aussieht. Für knapp 100 Millionen Euro soll der Konzertsaal nun errichtet werden, 2023 ist sogar schon das Eröffnungskonzert geplant.

Allerdings hapert es noch mit der Finanzierung, hauptsächlich durch reiche Schweizer Sponsoren. Und es wird über das Konzept gestritten, bei dem für weiter 28 Millionen Franken Teile des Bahnhofs unter die Erde verlegt werden sollen.

Bei den Schweizern ist es da nicht so leicht, Einigkeit herzustellen. Claudia von Siebenthal etwa ist wie die meisten Einwohner des Tals von der Notwendigkeit des Konzertgebäudes überzeugt. Aber: "Wenn man sich umhört gibt es ungefähr 7000 unterschiedliche Meinungen zum Projekt."