Faszination des Protests

Die deutsche Netflix-Serie "Wir sind die Welle" ist ein spannendes Sozialmärchen

14.11.2019 | Stand 23.09.2023, 9:27 Uhr
Helden in den sozialen Medien: Die Welle wird durch ihre Aktionen bekannt. −Foto: Spauke/Netflix

(DK) Es ist ein bunt-schillerndes Quintett, vier Außenseiter und eine Tochter aus gutem Hause.

Die Fünf setzen sich zur Wehr, kämpfen gegen Ungerechtigkeit und für eine bessere Welt. "Extinction Rebellion" lässt grüßen. Das Motto der jungen Revoluzzer: "Wir sind die Welle". Und so lautet auch der Titel der neuen deutschen Netflixserie.

Es gibt den Roman "Die Welle" von Morton Rhue. Die deutsche Übersetzung erschien 1984 und zählt bei Jugendlichen und meist auch im Deutschunterricht zur Standardlektüre. Es gibt die Verfilmung mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle, die erfolgreich im Kino lief. Nun kommt die Serie. Doch die hat mit der Vorlage nur noch wenig zu tun. Während Roman und Film auf dem sogenannten Third-Wave-Experiment beruhen, das 1967 der Geschichtslehrer Ron Jones mit seinen Schülern machte und sie zu einer faschistoiden Bewegung formte, wählt die Serie einen gänzlich anderen Ansatz. Es gibt kein Gruppenexperiment von Schülern mit ihrem Lehrer. In "Wir sind die Welle" gründen fünf Kids eine Untergrund-Gang, die sich auflehnt gegen Rassismus, Waffenhandel, Umweltverschmutzung und die Aktionen startet, die zunehmend radikaler werden.

Kopf der Truppe ist ein Schüler, der im Knast sitzt und als Freigänger tagsüber sein Abitur machen will. Er heißt Tristan, taucht eines Tages in der Schule auf, ist cool, weiß viel und setzt sich gleich gegen einige Jungnazis zur Wehr. Die eher brave, angepasste Lea, Tochter aus gutem, intellektuellen Hause, ist hin und weg von ihm, beginnt aus ihrer Welt auszubrechen. Kein Tennis mehr mit ihrem Schnösel-Freund, keine teuren Designer-Klamotten mehr, keine bunten Blätter mehr, sondern das konsumkritische Buch "Logos? Nein danke", das ihr Tristan gibt.

Drei Außenseiter schließen sich an, der junge Ägypter Rahim, der von Rassisten tyrannisiert wird, der pummelige Hagen, der gemobbt wird und Zazie, die bei ihrem Opa lebt. Auch sie sind von Tristan begeistert. Bald sind sie die Welle und werden durch ihre Aktionen in den sozialen Medien zu kleinen Helden. Doch dann gibt es Streit: Tristan will was verändern, Lea die Gruppe öffnen. Und schon knistert es zwischen den beiden.

Mark Monheim und Anca Miruna Lazarescu (Grimme-Preis für "Hackerville") haben je drei Folgen der Serie (Buch: Jan Berger u. a. ) in Szene gesetzt. Und das durchaus beeindruckend. Das Tempo stimmt, die Action ist einfallsreich, die Bilder intensiv, das Handeln zwischen Wut und Verzweiflung nachvollziehbar. Ludwig Simon als Tristan, Luise Befort als Lea, Michelle Barthel als Zazie - sie spielen stark, echt, wild.

Sieht man "Wir sind die Welle" als Coming-of-Age-Geschichte, dann ist sie sehenswert. Das Lebensgefühl einer Generation kommt gut rüber, die Spannung hält bis zum Ende. Man kann beobachten wie Gruppendynamik funktioniert und wo sie an Grenzen stößt. Problematisch wird es eher an den Stellen, wo die Story gesellschaftspolitisch aktuell sein will. Der Versuch, das linksradikale Milieu beschreiben zu wollen, glückt eher nicht. Und sehr holzschnittartig sind die Figuren um die glorreichen Fünf herum: dumpfe Nazis, rechte Verführer, erwartbar handelnde Eltern, verständnislose Lehrer. Bei den durchweg gewitzt inszenierten Aktionen wird die Serie dann eher zum Sozialmärchen und einer Mischung aus "Ocean Eleven" und James Bond. Wie locker dem Quintett alles gelingt, das ist zwar unterhaltsam anzusehen, da verliert die Serie aber an Kraft und Tiefe.

"Wir sind die Welle", 6 Folgen, abrufbar auf Netflix.

Volker Bergmeister