Ingolstadt
Ein unmoralisches Angebot

Mit dem Freilichtstück beendet das Stadttheater Ingolstadt die Saison: Am Freitag hat "Der Besuch der alten Dame" Premiere

19.06.2018 | Stand 23.09.2023, 3:50 Uhr
Im Turm Baur hat kurzzeitig das Hotel "Zum Goldenen Apostel" eröffnet. Ingrid Cannonier (oben) spielt die alte Dame, −Foto: Fotos: Hauser, Witzke

Ingolstadt (DK) Die verarmte Kleinstatt Güllen wird von der Vergangenheit heimgesucht: Claire Zachanassian wuchs einst hier auf, bevor sie - verführt, geschwängert und allein gelassen - von dort verstoßen wurde. Durch die Heirat mit einem Ölmagnaten ist sie zu unermesslichem Reichtum gekommen. Deshalb erhoffen sich die Einwohner von Güllen vom hohen Besuch die Abwendung des Ruins. Doch Claires Milliardenscheck gibt es nur unter einer Bedingung: Sie fordert ein Menschenopfer, die Leiche ihrer ehemaligen Liebe Alfred.

Dieser hatte sie vor langer Zeit mit einem unehelichen Kind im Stich gelassen, im Prozess die Vaterschaft geleugnet und Zeugen gekauft, die aus Claire eine Hure machten. Jetzt fordert sie Gerechtigkeit. Güllens Einwohner lehnen die Ermordung eines bislang angesehenen Bürgers zunächst entrüstet ab. "Lieber arm als blutbefleckt", ist sich der Bürgermeister gewiss. Güllens Bürger jedoch, sich des Geldes bereits sicher, kaufen auf Pump kräftig ein, endlich geht es aufwärts! Schleichend und grausig ereilt Ill die Gewissheit, dass die Gier seiner Mitbürger sein Schicksal besiegeln wird.

Mit der Uraufführung der Tragikomödie "Der Besuch der alten Dame" erzielte der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt 1956 in Zürich seinen internationalen Durchbruch. Längst zählt das Theaterstück um käufliche Moral, geheuchelte Wohlanständigkeit und menschliche Verführbarkeit zu den Klassikern des Welttheaters. Regisseur Ansgar Haag setzt das Stück als Freilichtspektakel zum Abschluss der Ingolstädter Theatersaison im Turm Baur in Szene. Es ist sein erstes Open Air überhaupt.
Premiere ist an diesem Freitag.

"Wir feiern dieses Jahr den 200. Geburtstag von Karl Marx. Die Idee war also, sich mit den Folgen des Kapitalismus auseinanderzusetzen. Und das lässt sich mit Dürrenmatts Parabel über den moralischen Verfall, den Geld bewirken kann, diskutieren. Die globalisierte Weltwirtschaft wird heute immer entpersonifizierter und entprivatisierter. Die Krake internationaler Kapitalismus bedroht die Menschlichkeit - davon handelt dieses Stück", sagt Ansgar Haag, der eigentlich Intendant des Südthüringischen Staatstheaters Meiningen und des Landestheaters Eisenach ist, den Gastinszenierungen aber überall hin führen - von Zürich nach Dublin oder von Bern nach Soul. Jetzt also Ingolstadt. Dürrenmatt. Freilicht. Er lobt das fantastische Ensemble. "Wenn ich vorher gewusst hätte, dass die alle so gut singen können, hätte ich ein Musical gemacht", scherzt er.

Um diesem Ensemble gerechter zu werden, hat er das Stück "frauenfreundlicher" gemacht. Denn: "Außer der alte Dame handelt es sich ja überwiegend um ein Männerstück. Aber wir haben ja tolle Frauen im Ensemble. Also haben wir aus Herrn Helmesberger eine Frau gemacht, die nun von Victoria Voss gespielt wird, aus dem Arzt eine Ärztin, gespielt von Mira Fajfer, und aus dem Journalisten eine Journalistin, gespielt von Renate Knollmann."

Die Titelrolle wird von Ingrid Cannonier verkörpert, die witzigerweise im gleichen Stück das Fräulein Luise - eine stumme Nebenrolle - verkörperte, als Ansgar Haag in den 80er-Jahren seine erste Dramaturgenstelle in Bonn antrat und das Stück dort auf dem Spielplan stand. Jetzt also ist sie die alte Dame, die mit furchterregender Konsequenz ihren Racheplan verfolgt. "Gleichzeitig liebt sie Alfred Ill bis ins hohe Alter. Ill hat einen schlechten Charakter, darauf deutet ja schon sein Name hin (ill ist das englische Wort für krank), aber trotzdem war mein Versuch, die Beziehung der beiden so zu zeigen, dass es die Möglichkeit eines Zurück gibt", erklärt der Regisseur. "Wenn die beiden noch ein bisschen länger flirten, vielleicht..." Er lacht. "Wir versuchen, das Stück so zu spielen, als hätte es ein etwas politischer ,Tatort'-Autor geschrieben. Dürrenmatt baut das Ganze doch auch wie einen Krimi auf."

Die schlimmstmögliche Wendung, die hier im Zentrum steht, ist die totale und willkürliche Herrschaft des Kapitals über Moral und Gesellschaft. Mit anderen Worten: Wird Ill sterben? Weil alles auf diesen Showdown zuläuft, soll sich das Publikum ein wenig an Wildwestfilme erinnert fühlen. Dazu trätgt auch die Musik von Jakob Dinkelacker und Fabian Simon bei, die die Vorstellungen zusammen mit Charlotte Brandi und Peter Christof live begleiten werden. "Es klingt wie eine Mischung aus ,High Noon' und impressionistischem Klavierspiel", verrät Jakob Dinkelacker.

Und die Bühne? Ist diesmal sehr reduziert. Ansgar Haag schwärmt vom Turm Baur als der "Festung der Verfallenheit", die perfekt zum Stück passt. "Die Architektur zeigt ein bisschen von der großen Vergangenheit. Selbst Goethe hat ja laut Stück mal hier gewohnt - aber jetzt wachsen die Bäume und das Moos an der Wand."

Premiere am 22. Juni in der Freilichtbühne im Turm Baur in Ingolstadt, Vorstellungen bis 21. Juli jeweils um 20.30 Uhr. Kartentelefon (0841) 30547-200. Eine Wetterhotline informiert ab 18 Uhr darüber, ob die Vorstellung wie geplant stattfindet: (0841) 30547-299.
 

Anja Witzke