München
Die im Dunkeln sehen

Christoph von Weitzel über sein Ein-Mann-Stück "Oper für Obdach"

22.11.2018 | Stand 23.09.2023, 5:03 Uhr
Sabine Busch-Frank
Mit dem Projekt "Oper für Obdach" ist Christoph von Weitzel in ganz Deutschland unterwegs. Heute tritt er in München auf. −Foto: Lenk

München (DK) Der Bahnhof ist für viele ein Ort des Aufbruchs - hier startet der Urlaub oder auch nur die Geschäftsreise oder man holt die Liebsten ab. Ein Ort voller Hektik und Wandel. Am heutigen Freitag werden viele Reisende Überraschendes erleben im Zwischengeschoss des Münchner Hauptbahnhofs, von wo man zur S-Bahn gelangt. Der Bariton Christoph von Weitzel wird dort zwischen 13 und 16 Uhr seine Performance "Oper für Obdach" aufführen, die auf einer Kurzversion von Schuberts "Winterreise" fußt. Ziel dieser vom Münchner Netzwerk Wohnungslosenhilfe organisierten Auftritte ist, bei freiem Eintritt auf Menschen zu verweisen, die in unserer Gesellschaft unterzugehen drohen.

Zwar muss in München, wo es genügend Wärmehallen für die Nacht gibt, auch bei kalten Temperaturen niemand auf der Straße schlafen, aber zum einen meiden viele die Notunterkünfte - und zum anderen ist es eben doch ein gravierender Unterschied, ob man ein Bett für eine Nacht oder ein eigenes Zimmer, eine eigene Wohnung hat. Dass aber der Wohnungsmarkt in der Landeshauptstadt völlig irrsinnig geworden ist, belegt nicht nur der Mietpreisspiegel, sondern auch Ludwig Mittermeier, Vorstand des Katholischen Männerfürsorgevereins München e. V.: "Wir sprechen aktuell von etwa 8800 Menschen, die in München obdachlos sind. Erschütternderweise sind darunter 1700 Kinder unter 18 Jahren. Wohnungslosigkeit kommt immer mehr in der Mitte der Gesellschaft an. Es gibt immer noch die bekannte Konstellation von psychischen und Suchterkrankungen oder anderen Problemstellungen, auch finden wir vielfach Menschen mit Migrationshintergrund in der Obdachlosigkeit. Aber das Problem trifft inzwischen viele Generationen und durchaus auch deutsche Staatsbürger. Auch Menschen sind obdachlos, die einer Arbeit nachgehen und einfach nicht genug verdienen, um sich das Wohnen in München leisten zu können. In unserem Wohnheim betrifft diese Situation 18 Prozent aller Fälle."

Dem Sänger Christoph von Weitzel kam der Wunsch, sich für sozial Schwache einzusetzen, als ihm klar wurde, wie wenig Aufmerksamkeit in unserer reizüberfluteten Gesellschaft Stellwände und Handzettel für relevante Themen erzeugen. Darauf beschloss er, sein Theaterhandwerk zur Verfügung zu stellen. Er arbeitete eine "Winterreise"-Performance entsprechend um, die er schon vielfach erfolgreich aufgeführt hatte. Die Ein-Mann-Mini-Oper verwächst mit einer Ausstellung, Texten aus der Bibel und von Schauspielern vorgetragenen Berichten über obdachlose Menschen zu einem Gesamtkunstwerk. Nachdem der Berliner Hauptbahnhof erste Station für das Projekt war, reist es jetzt nach München.

Und die Ortswahl ist natürlich kein Zufall. Mittermeier betont, wie wichtig Bahnhöfe für Obdachlose sind. "Hier treffen sich Menschen ohne Obdach, auf Durchreise, in Perspektivlosigkeit. Sie und ich denken vielleicht beim Bahnhof an Aufbruch, aber der Platz ist ein Schmelzpunkt für alle Menschen." Für den Sänger dagegen ist der Bahnhof in seiner Hektik eigentlich ein Unort: "Dort aufzutreten bedeutet für mich extremes Ausgesetztsein, in diesem Krach und unter vielen Menschen, ich bin aber dann so konzentriert, dass ich das kaum mitbekomme. Am Rande merke ich, wie viele Menschen lange stehenbleiben und betroffen sind. In Berlin wurde einmal nachgezählt, dass wir in drei oder vier Stunden 10000 Menschen erreicht haben."

Bei Schubert, obgleich auch er ein Zerrissener war, der sicher nicht grundlos so früh verstarb, ist die Unbehaustheit seelischer Natur, hat einen gewissen romantischen Einschlag. Weitzel aber betont: "Wenn man die Texte liest und wörtlich nimmt, dieses Herausfallen aus menschlichen Beziehungen - das ist zum Fürchten und Grausen." Am Leben auf der Walz, der Freiheit des Unbehaustseins ist jedoch heute wirklich nichts Romantisches mehr zu finden, da ist sich Mittermeier sicher. "Das ist ein Mythos. Freiheit in der Obdachlosigkeit gibt es nicht."

Sabine Busch-Frank