Die Neuerfindung der Klassik

Anja Lechner und Reto Bieri spielen in der Eichstätter Galerie Bildfläche

09.03.2020 | Stand 02.12.2020, 11:47 Uhr
Musikalische Collagenkünstler: Anja Lechner und Reto Bieri nach ihrem Konzert in der Galerie Bildfläche. −Foto: Klotzeck

Eichstätt - Zwei Musiker treten auf und spielen.

Genau das geschieht beim Konzert am Sonntag in der Galerie Bildfläche in Eichstätt. Aber das ist auch schon alles, was dieses Konzert mit anderen vergleichbar macht. Denn der Klarinettist Reto Bieri und die Cellistin Anja Lechner gehen völlig neue Wege in der Vermittlung von klassischer Musik.

Seit Jahrzehnten geht es um das möglichst spannende Interpretieren mehr oder weniger bekannter und viel gespielter Werke in der klassischen Musik. Bieri und Lechner scheinen die Sache umzudrehen. Sie bieten eine Performance mit Werken, die ineinander übergehen, verschachtelt sind, die von Improvisationen durchbrochen sind. Aus den Kompositionen machen sie etwas Neues, die klassische Musik, aber auch die Volksmusik ist ihnen ein Steinbruch. Die musikalische Collage ist keine Interpretation, keine bloße möglichst akkurate Deutung großer Meisterwerke, sondern eine Art Neuschöpfung, genau für diesen Augenblick der Konzertsituation. Was für Stücke genau auf dem Notenständer liegen, ist da fast zweitrangig.

Bei Bieri und Lechner sieht das so aus, dass sie mit einem Beethoven-Duo, das eigentlich für Klarinette und Fagott geschrieben wurde, beginnen, das Ende offen lassen wie ein Fragezeichen; dann mit langen fahlen Tönen improvisieren, bis sie plötzlich zu einem unsagbar schönen Tanz des kaum bekannten armenischen Komponisten Geroges I. Gurdjief überleiten, schließlich erklingen eine bearbeitete Scarlatti-Sonate und Sätze von Hindemith. Eine eigenartige musikalische Reise, eine Berg-und-Tal-Fahrt über lustige Melodien zu kaum mehr hörbaren, zutiefst intimen Momenten, von beißenden Dissonanzen zu schräg-lustigen Motiven. Das ist disparat und doch irgendwie ein einziges Werk, weil von Lechner und Bieri alle Teile eng aneinandergebunden werden zu einem großen Musikstück. Und weil die beiden mit solcher Überzeugungskraft, mit solcher enormer Intensität musizieren.

Vor allem Bieri ist ein Zauberkünstler auf seinem Instrument, er verleiht der Musik eine Leichtigkeit und Mühelosigkeit, die man sonst kaum je gehört zu haben glaubt. Wenn er Beethoven spielt, dann sind seine Töne kurz und prägnant, sie deuten mit fast pointillistischer Luftigkeit den Melodienfluss fast nur an. Bei Scarlatti und Gurdjief ist sein Ton so innig, so hauchartig zart, so ätherisch, als käme die Musik unmittelbar aus dem Nichts. Bei Hindemith zelebriert er musikalisch Kanten und Späße. Charaktervoller, suggestiver kann man kaum musizieren.

Und Anja Lechner? Auch sie spielt höchst expressiv, schiebt immer wieder den Bogen hoch ins Griffbrett, um dem Schönklang zu entgehen, um die Töne in einem Umfeld von Nebengeräuschen entstehen zu lassen, was ihnen erst den besonderen, rauen Charakter verleiht.

Dabei kämpfen beide Musiker ein wenig mit der trockenen Akustik in der kleinen Galerie mit ihren 25 Zuschauerplätzen. Und doch ist dieser Konzertort auch großartig. Das Publikum blickt an den beiden Musikern vorbei durch die Fenster ins Freie. Ganz leise quillt gelegentlich ein wenig das Stadtleben in den Raum, schiebt sich zwischen Cello und Klarinette, als gehöre es auch zu dem Kunstereignis.

Das alles ist, als wenn hier klassische Musik neu erfunden würde. Aus der eigentlich schon immer gültigen Idee heraus, dass Musik wenig mit Noten und Papier zu tun hat, nicht einmal sehr viel mit Kompositionen: Sondern mit den Klängen, die im Augenblick entstehen. Und die nur dann völlig authentische Kunst sind, wenn die Künstler spielen, als würden sie die Musik selber gerade erst erschaffen.

DK