Der Sisyphos des Ingolstädter Musiklebens

GKO-Dirigent Ruben Gazarian kämpfte hart für sein Orchester, nun hat er resigniert - Ein Hausbesuch in der Nähe von Heilbronn

06.03.2020 | Stand 23.09.2023, 11:04 Uhr
Reich der Musik und des Films: Ruben Gazarian blättert in einer Partitur. Ende des Jahres verlässt er Ingolstadt. −Foto: Schulze-Reimpell

Heilbronn - Das Haus von Ruben Gazarian ist verschlungen.

 

Man geht vom Wohnzimmer eine Treppe herab, gelangt irgendwie in eine Doppelgarage. Dann öffnet der Maestro eine Tür - und plötzlich ist man in seinem Reich angekommen. Im ersten, engen Raum erdrücken den Besucher förmlich die unzähligen CDs, unten in den Regalen befinden sich zahlreiche Partituren. Fast eine ganze Wand entlang stehen die Aufnahmen des Dirigenten selbst: Da sind nicht nur seine "offiziellen" CDs, sondern auch die Live-Mitschnitte aller Abokonzerte aus Gazarians langjähriger Heilbronner Amtszeit. Aber es finden sich weitere Schätze. Die berühmten Pultstars sind in großen Boxen gewürdigt, Karajan, Bernstein, Abbado, Solti, Carlos Kleiber und viele mehr. Gazarian blickt stolz die Reihen entlang. "Wissen Sie", sagt er, "wenn Sie mich hier 48 Stunden einsperren würden, hätte ich keine fünf Minuten Langeweile. " Er geht ein paar Schritte weiter an einem Klavier vorbei in den nächsten Raum. Dunkelheit. Eine Art Höhle, ausgestattet mit feinem technischen Equipment, ein Paradies für Menschen im Medienzeitalter. Hier verbringt Ruben Gazarian seine Zeit. Studiert Partituren, hört Musik, vergleicht, huldigt winzigen Details im Notentext. Gerade hat es ihm Bruno Walters Mahler angetan. Er hält die Box in die Höhe und schwärmt von der fünften Sinfonie, aufgenommen noch in den 40er-Jahren. Dann philosophiert er über das berühmte Adagietto. Wie soll man es spielen? Eher langsam mit gedehnten Tempi, sodass die Zeit fast still steht? Oder flüssiger? Walter wählte ein eher zügiges Tempo. "Er hat Mahler ja noch persönlich gekannt", betont Gazarian.

Der 48-Jährige steckt voller Geschichten und Erlebnisse, die er mit Begeisterung erzählt. Das Gespräch kreist um viele Dirigenten, Solisten, vor allem aber um das Faszinosum Musik selbst.

Noch etwas, das bei diesem Treffen ganz selbstverständlich zum Gesprächsthema wird, sind die Kindheits- und Jugendjahre. Was vielleicht nur wenige wissen: Der Maestro ist auch Kinofan. Musik war nie ein Problem für den jungen Ruben, er lernte schnell Geige, später nahm er Konzertmeisterpositionen in Orchestern ein, war schon vor dem Umzug nach Deutschland Mitglied einer hochkarätigen Kammermusikformation des armenischen Rundfunks und Fernsehens, daneben noch Geiger des Staatlichen Armenischen Kammerorchesters mit vertraglicher Verpflichtung zum Solisten dieses Ensembles. Aber zugleich war Gazarian eine Zeitlang vor allem von der Filmwelt begeistert. Im Alter von 15 Jahren wurde er unter Hunderten Bewerbern für eine Hauptrolle in einem Spielfilm ausgewählt. Das beglückte ihn. Also war es für ihn völlig klar, dass er eine Karriere als Schauspieler und Regisseur anstreben werde - da konnten Vater und Mutter noch so sehr auf ihn einreden und ihn daran erinnern, wie musikalisch er sei. Schließlich kam er doch noch zur Vernunft - und bereut das bis heute nicht.

Es gibt eine Unterwelt in Gazarians Haus - aber auch eine Oberwelt: Das Reich seiner Familie. Wenn man Ruben Gazarian reden hört, wenn man mit ihm durch seine lichte Wohnung geht mit den Bücherregalen, den Kunstbildern, den Familienfotos, mit seiner Frau oder seinem neunjährigen Sohn spricht - man würde kaum auf den Gedanken kommen, nicht einen Deutschen, sondern einen gebürtigen Armenier vor sich zu haben. Wenn man ihn fragt, ob ihn das stören würde, so fern der Heimat zu sein, in einem Land mit anderen Bräuchen und Traditionen, dann sagt er einfach: "Nein, überhaupt nicht. "

Gazarian, der als junger Erwachsener nach Deutschland kam, ist bereits zum zweiten Mal verheiratet, seine erste Frau starb vor zwölf Jahren an Krebs. Er hat vier Kinder, von denen zwei bereits erwachsen sind, einer macht gerade Abitur. Seine eine Tochter interessiert sich brennend für Israel und möchte Romanistik und Jüdische Studien studieren. Die Familie ist ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Bezugspunkt für Ruben Gazarian. "Ich brauche einfach die Gewissheit, dass in meiner Familie alles in Ordnung ist", sagt er. Deshalb telefoniert er, wenn er unterwegs ist, immer wieder mit seiner Frau. Um Anteil zu nehmen, um dabei zu sein, auch in der Ferne. Man spürt, wenn er auf seinen jüngsten Sohn zugeht, was für ein liebender und herzlicher Familienvater er ist.

Gazarian, der erst nachdem er bereits ein erfolgreicher Geiger war, eine Dirigentenausbildung in Leipzig absolvierte, war zwischen 2002 und 2018 der fast schon legendäre Chefdirigent des Württembergischen Kammerorchesters Heilbronn. 2015 ging er nach Ingolstadt, um (zunächst gleichzeitig) auch noch das Georgische Kammerorchester (GKO) zu übernehmen. Er ließ sich überzeugen, wohl auch weil die Orchestermusiker sich ihn unbedingt als neuen Chef wünschten.

Ziemlich bald merkte Gazarian, worauf er sich eingelassen hatte. Aber er blieb beharrlich, jahrelang. Trotz der immensen Schwierigkeiten. Trotz eines Orchesters, das er in einer Krisenzeit übernahm, einer Stadtführung, der fast jegliches Gefühl dafür fehlte, was es bedeutet, einen solchen Klangkörper beherbergen zu dürfen. Die mit dieser Perle der Stadt kaum etwas anzufangen wusste.

Gazarian kämpfte in den ersten Jahren seiner Amtszeit tapfer, zornig, unermüdlich. Er rannte leidenschaftlich gegen Mauern des Unverständnisses, der Trägheit und der Gleichgültigkeit an. Ein Sisyphos des Ingolstädter Musiklebens. Nie zuvor hatte ein Dirigent oder ein Geschäftsführer mit solchem Einsatz, mit solcher Energie für das GKO gestritten. Er war fest entschlossen, die Situation des Orchesters zu verbessern und darüber sprach er von Anfang an auch öffentlich - ein höherer Etat sollte kommen, höhere Gehälter, ein fachlich qualifizierter Intendant, bessere Probenräume, ein größeres Leitungsteam, das dem Orchester attraktive Gastauftritte im In- und Ausland vermitteln würde. Vieles davon hat er auch immer und immer wieder in seinen Interviews dieser Zeitung gegenüber angesprochen. Immer wieder wurden Fortschritte in Aussicht gestellt, am Ende aber nur sehr wenig erreicht. Oder erst viel später: Bereits als Gazarian 2015 kam, forderte er ein Gutachten der Unternehmensberatung Metrum, die bereits für das Württembergische Kammerorchester Heilbronn sehr gute Arbeit geleistet hatte. Allerdings erst jetzt, als Gazarian schon vor Monaten ziemlich resigniert beschlossen hatte, seinen GKO-Vertrag über das Jahr 2020 hinaus nicht mehr zu verlängern, erhielt die Münchner Firma den Auftrag.

Seit Gazarian sich entschlossen hat, das Orchester zu verlassen, wirkt er entspannter, ruhiger, nicht mehr ganz so überengagiert. Und das tut auch seinen Konzerten gut, die jetzt noch konzentrierter verlaufen. So als wenn er jetzt endlich die Muße hätte, sich nur auf die Musik zu konzentrieren. Es würde nicht verwundern, wenn er in diesem Jahr seine beste Saison hinlegt - auch weil er so einen großartigen Künstler wie Fazil Say als Artist und Composer in Residence an seiner Seite hat.

Natürlich bleibt ein bitteres Gefühl. Gazarian denkt mit viel Sympathie an das ernsthafte und interessierte Publikum in Ingolstadt. Er denkt zurück an einige wirklich großartige Konzerte, wie zuletzt etwa der Abend mit Sinfonien von Haydn und Schubert. Oder an die Saisoneröffnung vor wenigen Wochen mit Werken von Haydn und Say. Oder den fulminanten Abend in der Elbphilharmonie. Ereignisse, die neben all den politischen Verwerfungen, die das Schicksal des Orchesters seit Jahren dauerhaft begleiten, viel zu wenig Beachtung fanden. Gazarian ist ein äußerst penibler Arbeiter, ein fantastischer Orchestererzieher. Besonders die CD-Aufnahmen zeigen das Kammerorchester in blitzblanker, geradezu klinisch reiner Perfektion - allerdings geläutert durch spielerische Leidenschaft. Sie ragen heraus und werden bleiben.

Bilanz seiner GKO-Zeit ziehen möchte Gazarian noch nicht. Dazu liegen noch zu viele Konzerte vor ihm, auch der Auftritt etwa am 31. Mai in der Hamburger Elbphilharmonie. Vielmehr hofft er noch. Er hofft, für sich und für das Orchester. Dass sich doch noch alles zum Besseren fügen werde, dass einige seiner Wünsche für die Georgier doch noch Wirklichkeit werden. Jetzt noch, ganz am Ende.

DK

Jesko Schulze-Reimpell