Zürich
"Ich schaue lieber nach vorne"

Moritz Bleibtreu im Interview

24.01.2018 | Stand 02.12.2020, 16:54 Uhr

"Ich bin ein sehr gläubiger Mensch": Moritz Bleibtreu in dem Film "Nur Gott kann mich richten". - Foto: Bolliger/ Constantin Film Verleih

Zürich (DK) Moritz Bleibtreus neuer Film "Nur Gott kann mich richten" kommt heute in die Kinos. Im Interview spricht der Hamburger Schauspieler über Hip-Hop, Heimat, Verdrängung - und warum er sich ab und zu die Hände dreckig machen muss.

An die Spitze der deutschen Schauspielerriege katapultierte sich Moritz Bleibtreu, 46, vor 20 Jahren mit den beiden Kultfilmen "Knockin' On Heaven's Door" (1997) und "Lola rennt" (1998). Danach spielte er unter der Regie seines guten Freundes Fatih Akin in "Im Juli" (2000) und "Soul Kitchen" (2009) mit, außerdem in "Elementarteilchen" (2006), "Der Baader Meinhof Komplex" (2008) und "Die dunkle Seite des Mondes" (2015) sowie in internationalen Produktionen wie "Die Frau in Gold" (2015). In letzter Zeit auch in ausgewählten TV-Filmen zu sehen, darunter in der Krimi-Reihe "Schuld" nach Ferdinand von Schirach. Am heutigen 25. Januar kommt Moritz Bleibtreu mit dem lupenreinen Rache-Thriller "Nur Gott kann mich richten" ins Kino. Wir trafen ihn während der Filmfestspiele in Zürich im Hotel Widder, wo er sich zuerst einmal - trotz strengem Rauchverbot - eine Marlboro ansteckt.

 

Herr Bleibtreu, endlich ein Gangsterfilm, in dem die Leute tatsächlich gute Gründe haben, jemanden zu killen.

Moritz Bleibtreu: (lacht) Das sehe ich auch so.

 

Warum haben Sie als Schauplatz von "Nur Gott kann mich richten" Frankfurt gewählt?

Bleibtreu: Weil Frankfurt im Kino zu selten vorkommt. Mit all den Hochhäusern und Banken, aber auch dem Bahnhofsviertel und dem Rotlichtmilieu. Viel Stahl, viel Glas. In Frankfurt kann man sehr gut Großstadt erzählen. Viele der Rapper auf dem Soundtrack für den Film sind auch aus Frankfurt. Leider wird in Deutschland Hip-Hop immer noch nicht richtig verstanden. Aber ich habe das Gefühl, dass sich diese Musik nun langsam auch hierzulande durchsetzt. Hip-Hop ist schließlich der Rock 'n' Roll unserer Zeit.

 

Der Film ist sehr brutal, was in Bezug auf das Milieu krimineller Immigranten, in dem er spielt, ziemlich gewagt ist.

Bleibtreu: Der Film ist kein Sozialdrama. Es ist ein Genre-Film, der seine Figuren und ihre Lebensumstände ernst nimmt. Noch vor kurzer Zeit war die Umsetzung solcher Stoffe sehr kompliziert. Ich glaube, dass der von den Streamern ausgehende Ruck, der durch die Filmindustrie gegangen ist, jetzt den Weg für unkonventionelle Erzählstrukturen freigemacht hat, worüber ich sehr froh bin.

 

"Nur Gott kann mich richten" ist ein lupenreiner Rache-Film, der keine sozialkritische Studie sein will oder gar die Ausländer-Problematik thematisiert.

Bleibtreu: Genau so einen Film wollten wir machen. Ja, es ist ein Rache-Film, in dem es um den Tod geht und um die Fragen: Wann bist du bereit zu töten? Wo kommt deine Schuld her? Wie steht es mit deiner persönlichen Sühne?

 

Im Film sagt eine Frau zu dem Gangster Ricky, den Sie darstellen: "Gott richtet uns, um uns zurückzuholen." Glauben Sie das? Glauben Sie an Gott?

Bleibtreu: Ich bin ein sehr gläubiger Mensch. Allerdings verachte ich die Kirche. Und das, was ich glaube, überschneidet sich nur in ganz kleinen Teilbereichen mit dem, was man so Religion nennt.

 

Sie würden also nicht - wie Ricky im Film - beten?

Bleibtreu: Nein. Und wenn ich es tue, muss ich mich nicht hinknien und meine Hände falten. Vielleicht bete ich ja auf gewisse Weise, ohne es zu wissen. Aber sicher nicht im üblichen Sinn. Ich habe unlängst mit meinem neunjährigen Sohn über Gott geredet. Und da sagte ich ihm, dass ich es toll fände, wenn jeder für sich seinen eigenen Gott definieren würde. Da wäre doch die Welt viel schöner und bunter. Da könnten wir und doch alle untereinander austauschen - und zwar unter der Regel: "Seid nett zueinander!" Wir brauchen nun wirklich keine Dogmatiker oder gar Fanatiker, die uns sagen, was richtig und falsch ist. Was unsere heutige Zeit braucht, sind Philosophen. Menschen, die gesellschaftliche Entwürfe entwickeln, Fantasien erspinnen und uns erklären, welche weitreichende Bedeutung diese digitale Welt hat.

 

Mangels Identifikation mit der Realität entsteht oft auch eine Art Heimatlosigkeit. Haben Sie eine Heimat?

Bleibtreu: Ja, klar. Meine Heimat ist meine Familie. Immer da, wo ich bin und wo die Menschen sind, die ich liebe - da ist meine Heimat. Heimat war für mich nie ein Ort. Okay, Hamburg ist sicher eine ganz spezielle Stadt für mich. Da gibt es Ecken, zum Beispiel St. Georg, wo ich aufgewachsen bin. Aber ich hatte noch nie einen emotionalen Bezug zu einem Stück Land. Nationalismus ist mir völlig fremd.

 

Im Film gibt es für die meisten Protagonisten Brüche, die ihr Leben drastisch verändern. Gibt es solche schicksalhaften Ereignisse auch in Ihrem Leben?

Bleibtreu: Ja, viele. Ich bin leider Gottes schon sehr früh in meinem Leben mit dem Tod in Berührung gekommen. Damit, wie es ist, Menschen zu verlieren, die man liebt.

 

Standen Sie damals, Anfang der 90er-Jahre in New York, auch vor so einem Scheideweg? Sie sagten, dass Ihnen dort "der Stecker gezogen wurde".

Bleibtreu: Das meinte ich in Bezug auf die Schauspielerei. Ich konnte mit Method-Acting nicht viel anfangen. Okay, ich war damals mit 19 noch sehr jung, aber ich dachte, wenn sich all die tollen Schauspieler wie Robert de Niro, Al Pacino, Dustin Hoffman und so weiter drauf schaffen konnten und ich nicht - dann bin ich wohl kein richtiger Schauspieler. Ich habe da schwer gelitten. Dieses Prinzip der Gegensätzlichkeit habe ich einfach nicht umsetzen können. Für mich ist das auch heute noch ein Widerspruch, zu sagen, ich nehme längst verdrängte Situationen, die mir in meinem Leben tatsächlich passiert sind, und koche die dann für eine Filmszene wieder hoch. Ich denke also an meine tote Katze und rede darüber, dass du mich nicht mehr liebst. Das hat für mich instinktiv und emotional keinen Sinn gemacht.

 

Warum eigentlich nicht?

Bleibtreu: Weil ich gar nicht an meine tote Katze denken will. Wenn man mir sagte, dass ich mich an schlimme Dinge in meinem Leben erinnern sollte, dann müsste ich zum Beispiel darüber nachdenken, wie es war, als mein bester Freund gestorben ist. Das will ich nicht. Erst viel später habe ich verstanden, dass dieser Verdrängungsmechanismus auch etwas Gutes ist, denn er schützt einen ja auch. Ich kann doch mit diesen schrecklichen Dingen nur umgehen, weil ich es geschafft habe, sie zu verdrängen.

 

Nur zu verdrängen? Nicht auch zu bewältigen?

Bleibtreu: Ich glaube, das darf man ruhig verdrängen nennen. Wenn wir den Verdrängungsmechanismus nicht hätten, würden wir doch verrückt werden. Und was ist denn so schlimm daran, wenn man seine großen Schmerzen in eine Schublade legt und die dann abschließt? Zurück zu gucken ist jedenfalls nicht so mein Ding. Ich schaue lieber nach vorne. Ganz abgesehen davon: Irgendwann sollte einem doch klar werden, dass man eben der ist, der man ist. Dass einem das Leben geschenkt wurde. Und man daraus etwas machen sollte.

 

Die Intensität, mit der Sie den Gangster Ricky spielen, geht unter die Haut. Wie bringen Sie sich denn dafür am Set in Stimmung?

Bleibtreu: Meine Mutter hat immer gesagt, man muss "sich die Hände dreckig machen" oder "bar zahlen". Als Schauspieler muss ich ab und zu mal dahin gehen, wo es wehtut. Dorthin, wo ich ungefiltert etwas von meinem Innersten gebe. Wenn ich in einem Film nichts zu geben habe, dann mache ich ihn nicht. Es geht auch bei der Schauspielerei nicht um einen selbst. Sondern um den Kontext. Der weckt unsere Emotionen. Und wenn ich schon eine Emotion aus meinem vergangenen Leben hochholen müsste, warum dann nicht durch einen rührenden Moment? Ich könnte doch, zum Beispiel, an die Geburt meines Sohnes denken. Oder an den Moment, in dem mir meine Freundin in die Augen geschaut hat und zum ersten Mal sagte, dass sie mich liebt.

 

Sind Sie gerne Schauspieler?

Bleibtreu: Aber sicher! Ich habe als Schauspieler doch das größte Glück der Welt: Ich darf Kind sein, ich darf spielen, werde dafür bewundert - und kriege noch Kohle dafür.

 

Sie nehmen also keine Rollen mit nach Hause?

Bleibtreu: Absolut nicht. Es gibt sicherlich Kollegen, für die der Beruf eine existenzielle Bedeutung hat. Ich spiele diese Figuren. Mit all meiner Liebe, mit meinem ganzen Herzen und dem Talent, das mir Gott geben hat. In diesem Moment - und das ist es!

 

Das Interview führte

Ulrich Lössl.

 

Eine Besprechung des Films mit Moritz Bleibtreu, "Nur Gott kann mich richten", findet sich heute in unserer Beilage "unterwegs".