Außenseiter-Poet

Sido zeigt sich beim Autofestival in Ingolstadt derbe - und mit tiefsinnigen Texten

09.06.2020 | Stand 23.09.2023, 12:18 Uhr
Sido wendet sich bei seinem Auftritt direkt gen Himmel. Auf ihn muss der Himmel noch warten, rappt er. −Foto: Weinretter

Ingolstadt - Keine Schublade. Keine Kategorie. Das scheint das Motto zu sein, mit dem Rapper Sido am Montag auf der Bayern-3-Bühne bei seinem ersten von zwei Konzerten auf dem Ingolstädter Volksfestplatz steht. Sein Programm wirkt auf den ersten Blick unstrukturiert - und entpuppt sich auf den zweiten Blick als meisterhaft konzipiert.

 

Der Rapper mit Berliner Schnauze legt im Ghetto-Style los, spricht über die Straße, Alkohol, Drogen, Sex. Er ist wieder der Mann mit der silbernen Maske, der sich nicht anpassen will, es geht ihm um Geld, um Frauen, Freiheit durch Systembruch. Da steht er auf der Bühne, Sonnenbrille auf der Nase, rote Mütze, rotes Mikro: "Ich sag's wie's is', wir leben in ner beschissenen Zeit", ein klares Statement. Sido rappt, schneller Rhythmus, schnelle Beats, DJ Desue gibt ihm Background. Die weißen Sneaker wippen auf schwarzem Untergrund. Schwarz und Weiß, genau diese Denkmuster lehnt der Künstler ab. Denn er selbst ist so viel mehr, als der Mann mit der Totenkopfmaske. Er ist der Poet der Außenseiter, Philosoph der alltäglichen Dinge. So fängt er plötzlich an von Liebe zu singen, "ich spür dieses Kribbeln im Bauch", seine Backgroundsänger Adesse und Karen Firlej komplettieren die so populär gewordene Sido-Mischung aus Rap und Gesang. Immer noch ein bisschen derb und doch ungeheuerlich gefühlvoll.

Immer wieder kündigt er Lieder an, von denen er überzeugt ist, dass sie zu dieser Zeit besonders gut passen. "Lass uns leben vor dem Tod", heißt es in dem gleichnamigen Song, untermalt mit einem überraschenden Gute-Laune-Rhythmus, der so gar nicht zu dem nachdenklichen Text passen will. Nur einen Augenblick später richtet Sido seinen Blick nach oben, wirkt wie in einem Zwiegespräch mit höheren Mächten, "der Himmel muss warten"; das darauffolgende "Oh-Oh-Oh-Oh" des Refrains übernimmt das Publikum mit seinen Hupen. In einem Album mit silbernem Knopf hat er all seine Bilder im Kopf, als Astronaut will er abheben, nichts hält ihn am Boden.

 

Sidos Performance ist minimalistisch. Er steht am Mikro, mal sogar mit den Händen hinterm Rücken, fast schon in sich gekehrt. Dann wird er zum Dirigenten, Dirigent der Autos, des ganzen Platzes, als hätte er nie etwas anderes gemacht. "Es gibt den Hupapplaus, ein langes Hupen bedeutet ,Ja', wenn ich euch ein Zeichen gebe, schaltet die Warnblinkanlage an. " Hebt die Hand, gibt das Zeichen, beginnt zu singen - es klappt, die Zuschauer ersetzten die kunstvoll gesetzten Pausen mit Huplauten im Takt, "das klang super".

Der Künstler aus Berlin spricht am liebsten über Außenseiter, die Underdogs kommen durch ihn zu Wort. Berührend sein Song aus der Sicht eines vernachlässigten Kindes. "Mama mach die Augen auf"; weiche Vokaleinsätze lassen die klaren Lyrics tief gehen.

Manchmal weiß man nicht, ob Sido gerade einen Song performt oder sich mit einer direkten Botschaft an sein Publikum wendet, einmal ist es ganz klar: "Glaubt nicht, was Attila Hildmann sagt. " Sido kann auch politisch. Einen Moment später singt er von Plastik in den Meeren, Flüchtlingen ohne Hafen. Der Künstler kombiniert seine Chartstürmer mit Songs aus der Anfangszeit und einer überraschend hohen Dosis politischer Statements. Als wolle er aufräumen mit fragwürdigen Aussagen zu Verschwörungstheorien, die er vor kurzem machte. An diesem Abend in Ingolstadt wirkt Sido aufgeräumt, bodenständig und mit klarer Message: "Ich bin mir sicher, es ist nicht immer leicht ein guter Mensch zu sein, aber lasst es uns versuchen. "

Ist das noch der gleiche Sido, der vor wenigen Minuten mit "Fuffies" im Club um sich schmeißen wollte? Nein, nur einen Moment später ist er der Sido, der auf der Bühne sitzt und mit den Füßen baumelt, wie ein Kind. Der Sido, der über sich lacht, wenn er das Wort "anpasserisch" erfindet. Der Sido, der böse Texte rappt, den Mittelfinger in die Luft reckt, ein guter Papa sein will. Der Künstler, der da auf der Bühne in Ingolstadt steht, seine Aussagen gerne mit donnerknallartigen Soundeffekten untermalt, wirkt so authentisch, so glaubhaft, dass man gar keine Schublade braucht, nach keiner Kategorie suchen muss, denn er ist eben einfach Sido.

DK

Anna Hecker