Ingolstadt
Heilmittel Musik

Zweiter Abend der Sommerkonzerte: Iván Fischer dirigiert das Budapest Festival Orchestra

04.07.2020 | Stand 23.09.2023, 12:44 Uhr
Feeling für das richtige Timing: Dirigent Iván Fischer gibt dem Orchester Ruhe und Spielraum. −Foto: Audi

Ingolstadt - Das "Siegfried-Idyll" eröffnete den zweiten Abend der Audi-Sommerkonzerte. Aber was ist ein Idyll? Es ist vielleicht ein Moment des Glücks, ein Augenblick, der in die Länge gezogen werden sollte, damit er nicht vergeht. Wenn Iván Fischer das Budapest Festival Orchestra in der Audi-Betriebsversammlungshalle B im GVZ dirigiert, dann zelebriert er ins Unermessliche gedehnte Zeitmaße.

 

Wenn die ersten Takt anheben, scheinen sie einen Moment später bereits wieder zu verklingen. In Schönheit erstarrte Musik. Sicher, das ist so komponiert, das dirigiert fast jeder Orchesterleiter mehr oder weniger so. Aber bei Fischer ist es anders, die Zeit scheint wirklich stillzustehen, die verhaltene Seligkeit nicht vergehen zu wollen.

Das ist vielleicht überhaupt das Faszinierende am Dirigierstil Iván Fischers: Sein Feeling für das Timing, für den richtigen Augenblick des Geschehens. Er gibt dem Orchester Ruhe und Spielraum. Im Gespräch mit dem Moderator Alexander Mazza redet Fischer vom Zauber der Ruhe, die wir genau jetzt brauchen, nachdem wir Monate keine Livemusik erleben konnten. Und er spricht von der heilenden Wirkung der Musik in der Krise.
Aber Fischer verharrt natürlich nicht in diesen Momenten nicht enden wollenden Wohlklangs. Er gestaltet die wenigen Motive der Symphonischen Dichtung immer wieder neu, hält auch im musikalischen Verharren noch die Spannung, treibt die Musik voran, als wolle er alles zu einem Gipfel der Leidenschaft führen. Und bleibt selbst in den explosiveren Passagen am Ende doch immer noch gezügelt, als wolle er die Schönheit in den Momenten der heftig drängenden Leidenschaft niemals verlieren. Wie retardierende Momente integriert er dabei die Anspielungen ländlicher Idylle durch die Hörner und Holzbläser.
Natürlich spielt das Budapest Festival Orchestra nach den Geboten der Corona-Krise weit auseinander sitzend. Musiker leiden darunter, wenn sie den Klang nicht eng zusammensitzend homogen formen können. Und doch: Die ungewöhnliche Sitzordnung kann auch Vorteil haben, wenn plötzlich die Bläser besser im Raum zu orten sind, der Klang weiter aufgefächert erscheint, weniger kompakt.
So ist es auch beim zweiten Werk des Abends, "Les Illuminations" von Benjamin Britten mit der fantastischen Berliner Sopranistin Anna Prohaska. Auch hier, in der Streichorchesterbegleitung wirkt der Klang weitgefächert, ungewöhnlich farbig. Denn es geht bei Britten, der hier lautmalerisch intensive Gedichte von Arthur Rimbaud vertont, um fantastische, wilde Großstadtbilder, um Paläste aus Kristall und Metall, Feenkönige, Bacchantinnen, Erotisches und Maschinenhaftes. Prohaska singt das mit höchster Expressivität, höchster Sinnlichkeit, und auch höchster Klarheit, umtost von den Streicherklängen des wunderbaren Orchesters. Die Videoaufzeichnung bringt diese verzückenden Beschwörungen einer neuen surrealen Welt noch prägnanter zum Ausdruck als man es in der riesigen, akustisch nicht ganz überzeugenden Audi-Halle mit ihren Störgeräuschen aus dem Belüftungssystem hören konnte.
Zum Abschluss ein weiterer Höhepunkt: die Sinfonie Nr. 104 von Joseph Haydn, eines der wirklichen Meisterwerke des Wiener Klassikers. Haydn gehört zum Kernrepertoire des Orchesters und ihres Chefdirigenten. Aber unsere Sicht auf Haydn hat sich in den vergangenen Jahren nachhaltig verändert. Spätestens seit den Deutungen von Nikolaus Harnoncourt erwarten wir schnellere Tempi, schärfere Kontraste, mehr Wildheit, mehr Farbe, weniger Schönklang. Fischer und sein Orchester machen es anders, und vermögen doch damit zu begeistern. Auch hier: der große Dirigent ist ein Meister der Ruhe, des Geschehen-lassens. Die Motive sollen sich entfalten können. Dafür entwickelt sein Orchester dann fast noch mehr Nuancen, in den verzweiflungsvollen Vorhalten in der Einleitung, dem verschmitzten Witz im Menuet Allegro, der volkstümlichen Eleganz im Trio des Satzes. Sicher, das Finale könnte schneller, heftiger und stürmischer daherkommen. Aber es geht auch anders, weicher, geschmeidiger, wienerischer. Iván Fischer hat recht, solche Musik, dieser Wohlklang, diese Harmonie haben wir lange vermisst.

Jesko Schulze-Reimpell