München
"Auch Frauen malten mit"

Prähistorikerin Brigitte Röder über Geschlechterrollen zur Ausstellung "Lascaux - die Bilderwelt der Eiszeit" in München

12.07.2019 | Stand 02.12.2020, 13:31 Uhr
Nachbildungen der Wandmalereien aus der Urzeithöhle in Lascaux zeigt die Ausstellung in der Kleinen Olympiahalle München ebenso wie lebensechte Szenen der Urzeitmenschen. −Foto: SC Exhibitions/Hardy Müller

München (DK) Die Höhle von Lascaux im französischen Departement Dordogne gilt seit ihrer Entdeckung im Jahr 1940 als "Sixtinische Kapelle" der Höhlenmalerei.

Zum Schutz der Bilder ist der Zugang zu dem Weltkulturerbe seit 1963 dem Publikum verwehrt. Eine Schau mit exakten Nachbildungen in der Kleinen Münchner Olympiahalle gewährt Einblicke in die Urzeit-Lebenswelt. Wie es damals zwischen Mann und Frau aussah, darüber spricht Brigitte Röder, Professorin für Ur- und Frühgeschichte der Uni Basel.

Frau Röder, für die klassischen Geschlechterrollen wird gerne die Urzeit bemüht: Einwände?
Brigitte Röder: Ist es nicht absurd, davon auszugehen, dass in zweieinhalb Millionen Jahren Menschheitsgeschichte immer dieselben Verhältnisse geherrscht haben? Wir wissen heute, dass sich die Umwelt drastisch verändert hat und die Lebensumstände der Menschen sehr verschieden waren. Der Mann als Jäger in der Rolle des Ernährers, die Frau als Ehefrau, Hausfrau und Mutter - dieses Rollenmodell wurde in der bürgerlichen Gesellschaft vor rund 250 Jahren entwickelt.

Gehen wir bei Geschichte zu sehr von uns aus?
Röder: Das ist der Punkt. Wir übertragen unsere Vorstellungen von vermeintlich natürlichen Geschlechterrollen auf die Urgeschichte.

Was kann man dann sagen?
Röder: Da es aus der Urgeschichte keine schriftlichen Überlieferungen gibt, nutzen wir die sterblichen Überreste als Quelle. Bestimmte Tätigkeiten, die man immer wieder ausübt, schreiben sich in den Körper ein und verändern das Skelett. Ein gutes Beispiel ist Hallstatt im Salzkammergut. Dort hat man aus der Zeit zwischen 800 und 450 vor Christus die Überreste von alten Salzbergwerken und in unmittelbarer Nähe davon ein Gräberfeld ausgegraben. Offensichtlich wurden hier die Bergleute bestattet - überraschenderweise nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder. Die Analyse der Skelette ergab, dass die Männer das Salz mit Pickeln aus dem Berg gehauen haben. Die entsprechenden Bronzepickel hat man im Berg auch gefunden.

Frauen arbeiteten unter Tage?
Röder: Die Skelette zeigen, dass die Frauen schwer getragen, das heißt, das Salz nach oben transportiert haben. Die Skelettfunde beweisen auch, dass sich die Kinder von klein auf an dieser schweren Arbeit beteiligt haben. Man hat im Berg Kinderschuhe und eine Babykappe entdeckt. Die Kinder waren also unter Tage mit dabei. Es war auch keineswegs nur eine bestimmte Schicht, die von frühester Kindheit an so hart gearbeitet hat.

Alle haben mitgearbeitet?
Röder: Etliche Personen wurden mit außerordentlich reichen Beigaben bestattet, darunter Spitzenprodukte des damaligen Kunsthandwerks aus kostbaren Materialien. Ihre Skelette weisen aber die gleichen Belastungen auf wie diejenigen mit keinen oder wenig Beigaben. Das widerspricht unserer Vorstellung, dass man ab einem gewissen Reichtum andere körperlich für sich arbeiten lässt.

Gibt es weitere Funde, die dem klassischen Rollenverständnis widersprechen?
Röder: Ja, zum Beispiel das Grab des sogenannten Webers von Salzmünde aus der Jungsteinzeit. Der etwa 50-jährige Mann wurde mit Webgewichten und Spinnwirteln bestattet, die man zur Herstellung von Textilien benutzte. Nach gängiger Vorstellung waren bis zur Entstehung des Weberberufs Frauen dafür zuständig. Die Analyse des Skeletts ergab aber einen Mann. Außerdem wiesen die Ober- und Unterschenkel Veränderungen auf, die bei langem Sitzen in der tiefen Hocke entstehen. Genau diese Haltung erzwingen auch manche Webstühle.

Wie ist es mit den Waffen? werden sie eher in Männergräbern gefunden?
Röder: Gräber sind kein Spiegel des Alltags, sondern ein ritueller Kontext. Deshalb ist es schwierig, hier auf die Alltagsaktivitäten der Bestatteten zu schließen. In manchen Gesellschaften treten Waffen überwiegend in Männergräbern auf, aber auch hier gibt es Ausnahmen. Denken Sie an die Kriegerin von Birka aus der Wikingerzeit, die fast 140 Jahre als Mann galt, bis 2017 durch eine DNA-Analyse festgestellt wurde, dass es sich um eine Frau handelt.

Wer hat sich um die Kinder gekümmert?
Röder: Die Familie, wie wir sie annehmen, ist, wie gesagt, ein relativ junges Phänomen. Doch auch vor etwa 250 Jahren, als sie entstand, war sie für große Teile der Gesellschaft gar nicht lebbar. In bäuerlichen Milieus und in der Arbeiterschaft konnten die Frauen nicht zu Hause bleiben und sich nur um Haushalt und Kinder kümmern, zumal die Kinder mitgearbeitet haben. War die Erziehung in der Urgeschichte eher eine Gemeinschaftsaufgabe?
Röder: Erziehung ist immer vom Menschenbild und vom kulturellen Wertesystem geprägt. Daher gibt es eine unglaubliche Vielfalt an Erziehungskonzepten, und von dieser Vielfalt gehe ich auch für die Urgeschichte aus. Aber vielleicht gab es überhaupt keine Erziehungskonzepte. Und was das Lernen angeht, so werden in vielen außereuropäischen Gesellschaften Kindern die grundlegenden Kulturtechniken - vom Feuermachen übers Kochen bis hin zu landwirtschaftlichen Tätigkeiten - von den Erwachsenen gar nicht explizit vermittelt. Kinder bringen sich das meiste durch Beobachten und Nachahmen selbst bei. Zum Teil unterstützen oder korrigieren auch ältere Kinder.

Manches weiß man ja auch durch die Höhlenmalereien - wie von Lascaux. Viele gehen davon aus, dass Männer die Künstler waren.
Röder: Auch dieser Mythos hat mit dem bürgerlichen Rollenmodell zu tun: Der Mann, der Jäger, versorgt seine Familie nicht nur mit Fleisch, sondern er bringt der Menschheit auch die Zivilisation, das heißt die Kunst, während die Frau als ewige Hausfrau den Höhlenboden schrubbt.

In welchem Zusammenhang sind die Malereien entstanden?
Röder: Zunächst brachte man die Malereien mit Jagdmagie in Verbindung und interpretierte die Höhlen so als einen Raum, indem die Jäger ihre Rituale abhielten. Die Untersuchung von Nahrungsresten aus Siedlungen hat aber gezeigt, dass die Malereien gerade nicht den Speisezettel abbilden. Inzwischen ist außerdem klar, dass sich in den Höhlen auch Frauen und Kinder aufhielten und an ihrer künstlerischen Ausgestaltung beteiligt waren. Das lässt sich für die farbigen Handabdrücke, die sich teils direkt bei den Malereien finden, belegen. Und in manchen Höhlen gibt es Linienmuster, die mit den Fingern in den damals noch weichen Lehm der Wände eingestrichen wurden. Auch daran waren Kinder zweifelsfrei beteiligt. Deshalb sehe ich keinen Grund, weshalb die Tierbilder ausschließlich das Werk von Männern sein sollten. Der wissenschaftliche Beweis für diese stillschweigende Annahme steht übrigens noch aus.

Ging es bei diesen Malereien um Kult oder auch um Ästhetik?
Röder: Die Linienbündel beispielsweise folgen bestimmten Mustern, an die sich auch schon die Kinder hielten. Die Einbettung in eine rituelle Praktik ist für mich deshalb plausibel. Dafür spricht auch, dass die Bilderhöhlen keine Wohnplätze, sondern sehr spezielle Orte waren. Die Malereien finden sich zum Teil tief im Inneren der Höhlen, einige an fast unzugänglichen Stellen.


Heute ist Transgender ein großes Thema, gibt es Hinweise aus der Steinzeit?

Röder: Die Frage nach Transgender, Intersexualität oder nach sexuellen Orientierungen ist schwierig. Für die Beantwortung bräuchte es Schriftquellen. Hinweise auf Intersexualität könnten menschliche Figürchen mit weiblichen und männlichen Geschlechtsmerkmalen sein, die es nahezu aus allen Zeiten gibt. Phasenweise sind sie allerdings so häufig, dass sie wohl eher eine symbolische Bedeutung haben und vielleicht für ein anderes Geschlechterkonzept stehen, das nicht auf der Polarität Mann-Frau beruht. Was das sexuelle Begehren anbelangt, gehe ich mit Blick auf historische und aktuelle Gesellschaften davon aus, dass es auch in der Urgeschichte verschiedene Formen gab. Interessanter als diese Fragen finde ich jedoch ein anderes Phänomen: Wir sind heute geradezu geschlechtsbesessen. Aus der Urgeschichte gibt es viele Darstellungen von nackten Körpern, die geschlechtlich nicht gekennzeichnet sind.

Die Venus von Willendorf aus der Altsteinzeit ist eindeutig. . .
Röder: Und mit ihren äußerst üppigen Formen wird sie gerne als Fruchtbarkeitsgöttin gedeutet, was jedoch keineswegs zwingend ist. Aus derselben Zeit gibt es auch mädchenhaft schlanke Darstellungen, geschlechtlich nicht markierte oder doppelt lesbare Figuren. Im Prinzip haben wir ein Kontinuum von eindeutig männlich zu eindeutig weiblich mit vielen Zwischenformen. Sehr wahrscheinlich gab es also Gesellschaften, die ein anderes Geschlechterkonzept hatten als wir und in denen das Geschlecht lange nicht so wichtig war wie heute.

Das Gespräch führte

Christa Sigg.


"Lascaux - die Bilderwelt der Eiszeit", bis 8. September, Do-So 10-18 Uhr), Kleine Olympiahalle München. Vortrag "Er Jäger und Künstler, sie Hausfrau und Mutter? Geschlechterrollen in der Urgeschichte", am Sonntag, 14. Juli, um 14.30 Uhr in der Kleinen Olympiahalle, München.