Andechs
Pipi und Popo im Freudentaumel

03.07.2014 | Stand 02.12.2020, 22:30 Uhr

Was hat Carl Orff mit Georg Büchner zu tun? Er schrieb eine Bühnenmusik zu dessen Drama „Leonce und Lena“. Mit Manuel Mairhofer und Christina Laas feierte das Lustspiel in Andechs Premiere - Foto: Hosch

Andechs (DK) „Auf Ehre, Prinz, die Welt ist doch ein ungeheuer weitläufiges Gebäude“, keucht der geschundene Diener Valerio – und er hat recht. Hier, am heiligen Berg von Andechs, liegt Orff begraben und hier hat er sich die Verortung seiner Festspiele gewünscht. „Damit die Leute sehen, wo ich zu Hause bin.“

So pilgern die Festspielgäste alljährlich auf den Berg – und die Veranstalter üben die Quadratur des Kreises: Einerseits hinterließ Orff ja ein recht umfängliches Werk, das es zu entdecken gälte – andererseits zieht der Name des Komponisten die Massen nur an, wenn eines seiner bekannten Stücke auf dem Spielplan steht wie „Die Kluge“, „Der Mond“ oder die unverwüstlichen „Carmina Burana“.

Nicht sehr weitläufig also, das Gebäude der Andechser Weltbühne, denn da man in Andechs auch noch einen – zwar hochcharmanten – Bühnenraum in einem Stadel nutzt, der szenische Einfälle stark beschränkt, und dort seit Jahren mit dem gleichen Team arbeitet, wird es irgendwann doch ein wenig eintönig auf dem heiligen Berg: Der dreiheilige Orff, Holzbühne mit Orchester unten, Klappe, Seitenbalkone oben, Kleider in meist heller Leinenoptik und dann noch einige unermüdliche, dicke Stallfliegen im Publikumsraum, nach denen die Besucher routiniert schlagen. Dem hat Intendant Marcus Everding, im Amte seit 2008, nun einen deutlichen Akzent entgegengesetzt: Er erweitert die Palette des Festivalprogramms um Büchners „Leonce und Lena“ und schwimmt sich damit so lustvoll wie erfolgreich frei.

Eine (von fremder Hand komponierte) Bühnenmusik zu Büchners Lustspiel hatte Orff als junger Kapellmeister in Mannheim dirigieren müssen – und sie so gehasst, dass er aus Fragmenten einer seiner „Sommernachtstraum“-Projekte eine neue schrieb. Leider ist diese Partitur verschollen, und den Klavierauszug hat Orff ausdrücklich nicht autorisiert. Weil aber Büchners Komödie von der zelebrierten Langeweile der geistigen Elite gar so gut in unsere Zeit und nach Andechs passt, und beide Geistesgrößen Everding gar wie ein „zeitverschobenes Paar“ anmuten, hat Andechs jetzt dennoch seinen Büchner-Abend. Die Musik schrieb Stefan Blum, Dozent für Percussion am Leopold-Mozart-Zentrum der Universität Augsburg.

Kann das gutgehen? Nicht nur die Freunde der Festspiele waren zunächst schwer irritiert, obwohl ja hier auch schon mal ein sehr erfolgreicher „Goggolori“ auf dem Spielplan stand und also durchaus nicht immer nur „Orff“ drin war, wo „Orff“ draufstand. Wer weiß, was Orffs Witwe Liselotte, die in Andechs bis zu ihrem Tod 2012 kräftig mitmischte, zu diesem Projekt gesagt hätte. Büchner, ein protestantisch erzogener Hesse, früh verstorbenes Genie des Vormärz – in Bayern?

Doch das Wagnis gelang – und die freche Inszenierung Everdings, die Büchners Zwergen-Hofstaate „Pipi“ und „Popo“ mit unserer Tablet-und-Handy-Gesellschaft witzig vernetzt, wird vom Publikum bei der Premiere gefeiert. Der vor Langeweile fast berstende, golfende Prinz und sein wortwitziger Diener-Freund Valerio (Manuel Mairhofer und Jan Kittmann) sind typische Cappuccino-Dandys unserer Zeit. Prinzessin Lena (Christina Laas) allerdings kommt womöglich dem Ideal ihres Prinzen „unendlich schön und unendlich geistlos“ zu sein, zu nahe. Ihre blutleere Noblesse wird von der temperamentvollen Gouvernante (Josepha Sophia Sem) allzu mühelos an die Stadel-wand gespielt.

Witzig auch König Peter, der vor lauter Ablenkung kaum mehr zum Denken kommt, und der gekonnt anheizende Moderator Michael Schlenger, der den Zuschauern verspricht, dass bei „Humorabfall“ zur Rettung Pointen von der Decke fallen würden – was dann glücklicherweise nicht nötig ist. Es bleibt durchgehend niveauvoll und unterhaltsam, der Sprachwitz knattert durch die Abendluft, wie es sein soll bei dieser nur wenige Verse umfassenden Büchner-Preziose.

Aus dem Orchestergraben aber jazzt es, durchaus auch mal bayerisch, und die Zitate reichen von Fats Dominos „I’m Walking“ über den Schlager „Eviva España“ bis zu Clementis Klavier-Sonatine in C-Dur. Die Welt ist doch eben ungeheuer weitläufig.

 

Weitere Aufführungen heute und morgen um 19 Uhr, am Sonntag um 16 Uhr, Einführung jeweils eine Stunde vorher. Außerdem stehen noch Kammerkonzerte und ein Orchesterkonzert auf dem Festspielplan sowie das inszenierte Konzert „Carmina Burana / Catulli Carmina“, das vom 24. Juli an siebenmal gegeben wird.