Ingolstadt
Eitelkeiten, Machtspiele, Reden

26.05.2014 | Stand 02.12.2020, 22:39 Uhr

Aufmerksam, witzig, eloquent: Roger Willemsen bei den Literaturtagen Ingolstadt - Foto: Persy

Ingolstadt (DK) „Da sitzen wir, einander gegenüber, nur wir beide, sie und ich, getrennt durch eine Glasscheibe.“ Roger Willemsen geht am Sonntagabend im voll besetzten großen Saal der Fronte ohne Ankündigung mitten hinein in die Lesung aus seinem Buch „Das Hohe Haus“.

Aus diesem Bericht über ein Jahr, sein Jahr, auf den harten Sitzen der Besuchertribüne, in dem er an allen Sitzungen des Plenums teilnahm. Von morgens früh bis spät in die Nacht.

Es war die Neujahrsansprache der Kanzlerin am Montag, 31. Dezember 2012, als sie „steif und fern“ saß, in dieser „futuristischen Silberweste“, die Roger Willemsen zu diesem Experiment inspirierte. Er wollte herausfinden, wie er selbst, wie das Individuum im demokratischen System repräsentiert werde. Denn die Neujahrsansprache ließ ihn zweifeln, warf Fragen auf, regte ihn als kritischen Zeitgenossen zum Nachdenken an, forderte Widerspruch und Einwürfe heraus.

Exakt so, wie er die Neujahrsansprache im Buch reflektiert – „Was für ein Redetyp ist dies? Eine Ansprache? Eine Gardinenpredigt? Ein Märchen“, liest Willemsen auf der Bühne der Fronte. Schnell liest er, stets lächelnd. Nach wenigen Minuten hat er die Lacher auf seiner Seite, als er die Kanzlerin mit „ihren Gesten, die sie so gern im Scharnier der Raute einrasten lässt“, beschreibt.

Doch ist Willemsen am letzten Leseabend der 21. Literaturtage Ingolstadt nicht allein auf der Bühne. Mitgebracht hat er die Schauspielerin Annette Schiedeck und den Moderator Jens-Uwe Krause von Radio Bremen. Zu dritt sitzen sie an einem langen, schwarz verhüllten Rednerpult, lesen abwechselnd, Roger Willemsen seine kritischen Anmerkungen, seine Beschreibungen dessen, was er im Bundestag beobachtet hat. Jens-Uwe Krause übernimmt die Zwischenrufe der Debatten, auch Redeanteile einzelner Abgeordneter, unterbricht im Stakkato mit „Wir dulden nicht“ und „nicht mit uns“, als Willemsen vom „Satzbaukasten der Brachialrhetoriker“ spricht.

Annette Schiedeck zieht bei Originalzitaten der Kanzlerin die Mundwinkel wie diese nach unten, lässt Worte wie „Sicherheit“, „Leistungsbereitschaft“, „Vertrauen“ mit versteinert-gleichgültiger Miene fallen. Und den bayerischen Zungenschlag einer Ilse Aigner kurz aufblitzen. Die Zuhörer wähnen sich mittendrin im Hohen Haus, lachen, wie Roger Willemsen große Politik mit dem teils banalen, teils ungehörigen Verhalten der Abgeordneten konfrontiert, lachen, weil die Dramaturgie der drei dort auf der Bühne stimmt.

Ab und an wird es still: Wenn die beiden Anträge mit dem Titel „keine Privatisierung des Wassers“, die zwar „klingen wie das Vernünftigste von der Welt“, abgelehnt werden, nur „weil die falsche Fraktion (Die Linke) sie eingebracht hat“. Noch stiller, wenn es um die Toten geht nach Waffenexporten der Bundesrepublik in Krisengebiete oder durch falsche Entscheidungen in Afghanistan. 90 Minuten dauert dieser Parforceritt durch große Politik, lebensentscheidende Abstimmungen, Empfindlichkeiten, Eitelkeiten, durch Weltanschauungen. Auffallend: So klar seine Kritik an den Einstellungen, den Weltbildern und dem Verhalten der Abgeordneten sein mag, immer bleibt Willemsen fair, versucht den Einzelnen zu verstehen.

Die Schlange beim Signieren ist am Ende sehr lang. Dennoch nimmt er sich Zeit für jeden, jedes Gespräch und Anliegen. Klug, witzig, aufmerksam auf Details achtend. Eben so, wie er ein Jahr lang die Parlamentsdebatten verfolgte.