Die stille Angst des Weltkonzerns

Warum Google so hartnäckig an Street View festhält

28.08.2010 | Stand 03.12.2020, 3:44 Uhr
Google is watching you −Foto: Hauser

San Francisco (DK) Eine fünfzehn Meter hohe Eiche mit einer breiten Krone überschattet die Terrasse eines Starbucks-Cafés an der Sandhill Road in Stanford. Auf jedem zweiten Tisch steht ein Laptop. Die Gäste haben ihre Stimmen gedämpft, man hört nur Wortfetzen: "My company . . .", "I show you. . .". Das Silicon Valley geht seiner Arbeit nach.

Hinter der nächsten Hecke hat der Risikokapitalgeber Sequoia seine Zentrale. Er finanzierte einst den Internetkonzern Google, als der wenig mehr als eine Idee war. Jetzt finanziert er Girish Benguela, aber Benguela will nicht sagen, woran er arbeitet. Das Start-up sei noch im stealth mode, alles geheim, sagt er, und lässt sich nieder.

Girish Benguela ist gekommen, um über seine große Sorge zu reden: Privatsphäre. Er hat kein iPhone und auch sonst kein internetfähiges Handy. Er versteht zu viel davon. "Wer einmal drin ist, dessen Daten verschwinden nie. Irgendwo tauchen sie wieder auf. Immer."

Nur der Anfang

Zu den datengierigen Diensten, denen Benguela misstraut, gehört auch Google Street View, jener in Deutschland umstrittene Stadtplandienst. Dabei ist Street View nur ein Anfang. Dem Programm werden andere, mächtigere folgen. Eine technologische Welle baut sich auf. Sie wird genährt von sogenannten Geodatendiensten, die Internet und Handy mit dem Standort des Benutzers verbinden und in deren Sog auch Menschen in die Datenbanken großer Internetunternehmen geraten können, die sich bewusst von ihnen fernhalten.

Derzeit testen Hunderte von Start-ups neue Programme, die den Menschen orten, sein Verhalten und seine Bewegungen analysieren, ihn durchsichtig – und manchmal öffentlich machen. Sie heißen Gowalla, Foursquare, myRete oder Pelago, und ihr Einfallstor sind moderne Handys und digitale Kameras, in die ein GPS-Chip zur Ortung eingebaut wurde. Geld haben diese Startups genug. Mehrere Milliarden Dollar Wagniskapital sind an sie geflossen. Einige von ihnen bergen wahrlich sozialen Sprengstoff.

Nur, warum macht Google da mit? Angetreten mit dem Motto "Sei nicht böse" ( Don’t be evil), riskiert der Weltkonzern gerade seinen Ruf. Warum hält er an Street View fest?

In einem hundert Jahre alten Lagerhaus in der Innenstadt von San Francisco ist das Industriezeitalter lange vergangen. Frankreich gilt hier nicht mehr als Ort der Revolution, sondern der guten Küche. Im Restaurant Townhall liegt der Backstein hübsch frei, und der Wein ist so französisch wie die Charcuterie. Matt Cohler kommt gerne hierher, wenn er einen anstrengenden Tag hinter sich hat. Auf der Suche nach Erfolg ist Cohler als junger Mann nach Kalifornien gegangen. Und er hat es geschafft. Heute dienen ihm andere, neue junge Männer ihre Geschäftsideen an – und Cohler entscheidet, was sie wert sind.

Der Mann trägt ein schwarzes, leicht ausgewaschenes T-Shirt und eine Jeans, die Arbeitsuniform des Silicon Valley. 2005 war er einer der ersten Angestellten beim Sozialen Netzwerk Facebook und lange Zeit dessen Entwicklungschef. Doch dann hat er die Seite gewechselt und ist Partner beim Wagniskapitalgeber Benchmark Capital geworden. Die Manager dieses Fonds gelten als exzellente Spürhunde. Unter anderem haben sie früh in den populären Kurznachrichtendienst Twitter investiert, und Cohler sucht nun das "nächste große Ding".

Cohler macht eine Handvoll Megatrends aus, und Google verbindet drei davon. Der erste heißt cloud computing (Daten werden auf Rechnern in den Tiefen des Internets gespeichert, nicht mehr zuhause), der zweite consumer internet (Soziale Netzwerke), der dritte ist der Trend zu mobilen Angeboten. Wie Google das vorantreibe, sagt Cohler, sei "begeisternd". Dazu reißt er die Augen ein wenig auf, kneift den Mund zusammen und wackelt mit dem ganzen Oberkörper. Es ist seine Art, etwas zu unterstreichen. Denn er hat eine leise Stimme und sieht für Anfang dreißig noch immer sehr jung aus.

Doch man sollte den Mann nicht unterschätzen. Cohler versteht Google. Man trifft sich. Redet miteinander. Und dabei machen Google-Manager kein Geheimnis aus ihrer Strategie und dem Grund, warum sie so hartnäckig an Street View festhalten.

Google muss einen fundamentalen Wandel meistern. Schon heute gibt es mehr Handys auf der Welt als Computer. In einigen Ländern geht schon ein Drittel der Menschen mobil ins Netz, Tendenz steil steigend. Alle Prognosen besagen, dass Handys in einigen Jahren der wichtigste Zugang zum Internet sein werden, vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern.

Es geht um Milliarden

Seine Milliardengewinne erwirtschaftet Google aber mit Werbung, die nur auf großen Bildschirmen von Laptops und PCs zur Geltung kommen. Und die Bedeutung des Konzerns beruht darauf, dass Google-Angebote für viele Menschen Dreh- und Angelpunkt im Internet sind. Dieses Geschäftsmodell ist durch Handys bedroht. Weil deren Bildschirme so klein sind und weil alteingesessene Unternehmen den Handymarkt beherrschen.

2008 reist Google-Gründer Larry Page persönlich durch Afrika, um sich ein Bild zu machen, und er ist beeindruckt, "wie groß die Zahl der Menschen ist, die in Uganda schon ein Mobiltelefon besitzen". Bereits damals ist klar: Er will das Handy erobern. Nur wie? Er erfand es einfach neu. Der Konzern suchte sich einen Gerätehersteller und entwickelte eine eigene Basis-Software für Handys. Sie heißt Android und breitet sich in einigen Ländern inzwischen schneller aus als das oft gerühmte iPhone. Der wesentliche Unterschied ist: Apple, der Hersteller des iPhone, setzt enge Grenzen, was Programmierer tun dürfen. Bei Android sind sie hingegen frei zu tun, was sie für richtig halten. Und Google macht es ihnen zudem leichter, eine normale Internetseite aufs Handy zu übertragen – davon profitieren natürlich auch die eigenen Programme. "Das mobile Web soll dem herkömmlichen so ähnlich wie möglich sehen", beschreibt Matt Cohler die Google-Strategie, und da Google jetzt das mobile Internet prägt, will der Konzern "so viele internetfähige Handys wie möglich in die Hände von Hunderten von Millionen Menschen bringen".

Google Street View soll dabei helfen. Es dient als Verkaufsargument für teure Internethandys. Denn wer das Programm nutzt, so das Kalkül, braucht bald kein zusätzliches Navigationssystem mehr im Auto. In den USA hat Google seine Landkarten (Google Maps) schon mit Street View verschmolzen. Das Handy zeigt seither nicht nur einen Stadtplan, sondern Bilder des Hauses, an dem man als Nächstes abbiegen muss.

Im zweiten Schritt soll Street View zur Werbefläche werden. Die Pizzeria um die Ecke, der Friseur, das Immobilienbüro: Wer daran vorbeigeht oder aus der Ferne mit Handy oder Computer nach Informationen, Sonderangeboten und Telefonnummern sucht, soll sie in den dreidimensionalen Stadtplan eingeblendet bekommen. So als klappe ein Bild auf, um die darunter liegenden Informationen preiszugeben. Gelingt das, kann Google sein altes Geschäftsmodell in die mobile Ära übertragen, und um dahin zu kommen, nimmt der Konzern erhebliche Verletzungen der Privatsphäre, den Protest von Zehntausenden und eine Anti-Google-Debatte in Kauf.

Philipp Schindler, der Vertriebschef von Google in Europa, hat also Ärger erwartet, als er vor ein paar Wochen nach Hannover reiste. Dort würde er den Bundesinnenminister treffen, um auf offener Bühne über Geschäft und Datenschutz zu diskutieren. Doch einmal angekommen, stellt Schindler verblüfft fest, dass ihn kein Widerstand erwartet, sondern ein äußerst aufgeräumter Thomas de Maizière.

Nach ein paar einleitenden Worten setzt sich de Maizière in einen Sessel vor einen tiefroten Vorhang aus Samt, der Minister hebt sich da in seinem hellbraunen Sommeranzug schön ab. Dann beginnt seine Vorstellung: Jenseits des Datenschutzes gebe es ein paar wirklich wichtige Themen, sagt er. Er streckt den ersten Finger seiner rechten Hand aus. "Netzneutralität", sagt er dann. Alle sollen die gleichen Chancen beim "Zugang zum Internet" haben. Alle, auch diejenigen auf dem platten Land, sollen einen schnellen Internetzugang bekommen. Und kein Unternehmen soll bei seinen Kunden unterscheiden dürfen, wessen Daten es schnell und welche es langsam durchs Netz befördere. In beiden Fällen ist Netzneutralität mit "gleichen Chancen für alle" zu übersetzen.

Der zweite Finger reckt sich. "Datensicherheit ist das Nächste. Sie ist wichtiger als Datenschutz", sagt de Maizière. Der Minister hat noch ein weiteres Thema und tippt auf einen dritten Finger. Man müsse für "Wettbewerb" sorgen. Links vom Minister kann Schindler seine Freude nicht verbergen. Er lächelt, rückt vor, ergreift das Wort. Spontan und fast überschwänglich lobt er den Minister, weil Google, wenn das ernst gemeint war, keine strenge Neuauflage des Bundesdatenschutzgesetzes fürchten muss.

Aufruhr um "geotags"

Aber warum mag sich der Minister nur ganz am Rande um Datenschutz kümmern? Sieht er die große Welle nicht, die aus Kalifornien anrollt? Dabei haben die ersten Brecher Deutschland bereits erreicht. Die Zahl der Fälle, in denen Menschen gegen ihren Willen in Datenbanken geraten, nimmt absehbar zu.

Im Januar schrieb das Nachrichtenmagazin Spiegel über eine Software, die Gesichter erfassen und ihnen in wenigen Sekunden einen Namen sowie alle Informationen zuordnen könne, die frei im Internet zu finden sind. Das Programm heißt Goggles, entwickelt von Google, bisher ist es bloß noch nicht freigegeben. Gesichtserkennung plus persönliche Akte: Das ist nicht mehr fern.

Bei aller Kritik, die es also an Street View gibt: Technisch gesehen, ist er unter den Geo-Diensten nicht der atemberaubendste.

Neuer Aufruhr könnte bald um sogenannte geotags entstehen. Früher oder später werden sie der Schlüssel zu fast jeder Wohnung sein. Nüchtern betrachtet, sind geotags kleine Informationsschnipsel, die an vielen digitalen Fotos und Videos hängen. Das geschieht, weil heutzutage in Kameras und Handys oft ein GPS-Chip eingebaut ist. Dieser Chip liefert zu jeder Aufnahme einen Längen- und einen Breitengrad und war eigentlich dazu gedacht, dem Fotografen das Sortieren seiner Bilder zu erleichtern. Aber inzwischen tauchen solche Fotos zu Tausenden in Kleinanzeigenmärkten im Internet auf und millionenfach in Onlinefotoalben und Videoportalen wie YouTube. Das Dumme ist: Jeder kann mit einem kleinen Zusatzprogramm genau feststellen, an welchem Ort solche Aufnahmen entstanden sind.

So werden Menschen geortet, deren einziger Fehler es war, dass in ihrer Wohnung ein Familienfest stattfand – und ein Onkel oder ein Freund ein paar Erinnerungsbilder machen wollte, die er wiederum ins Internet stellt. Es erwischt die Menschen inzwischen dort, wo sie es als Letztes vermuten: auf ihrem Sofa, in ihrem Bett.

Am Anfang steht der Stolz

Am Anfang steht dabei kein böser Wille, sondern Stolz. Der Stolz, eine geniale Idee zu haben – und Pioniergeist. So war es bei den Start-ups, den jungen Firmen namens myRete, Pelago – und Heypic.

Andrew Seigner hat eine schwarze, schmal geschnittene Jacke. Draußen hat es schwer geschüttet, und er hat noch Tropfen auf den Schultern, als er in das Blue Bottle Café tritt. Es gilt unter den Kaffee-Verrückten von San Francisco als eines der besten. Seigner ist ein sehr schmaler Mann, blass, mit schnellen Händen. Seinen Partner Robert Manson hat er auch mitgebracht, aber die Rollen sind klar verteilt. Andrew redet, Robert schweigt und programmiert.

Sie sind die Gründer von Heypic, und was sie erzählen, klingt unglaublich. Sie können mit ihrer Software den Datenstrom des Kurznachrichtendienstes Twitter durchsuchen. Das ist erlaubt. Später platzieren die beiden die dort gefundenen Bilder anhand des geotags auf einer Landkarte. Seigner grinst breit, als er sagt, wie viel es die beiden kostet, diesen Dienst zu betreiben: »Rund 20 Dollar im Monat.« Um zu beweisen, dass er keinen Blödsinn redet, erklärt er, wie es zu den geringen Kosten kommt. "Wir fassen die Fotos nicht an, sondern legen einfach einen kleinen Link zu dem Foto in der Twitter-Datenbank." Der geotag sorgt dann dafür, dass sich der Stadtplan von San Francisco mit Bildern füllt.

Sie hätten nur etwa drei Wochen gebraucht, um die erste Version zu entwickeln, sagt Seigner. In ihrer Freizeit hätten sie dran gesessen, weil sie tagsüber Angestellte einer old- school-Firma seien, die Musiksoftware für Auto-Hi-Fi-Anlagen entwickelt. Und sie haben erste Erfolge. Einer der Gründer von Twitter fände sie klasse, die New York Times habe sie erwähnt, und einige Tausend Nutzer hätte Heypic auch schon. "Wir haben einige einflussreiche Leute, die uns gut finden." Die jüngste Twitter-Entwicklerkonferenz sei ebenfalls toll gewesen, erzählt Seigner noch. "Da trifft man jemanden, steckt Minuten später in einem Taxi, und der Taxifahrer redet so, als ob er alles über Twitter wüsste. Das ist San Francisco. Und deshalb sind wir hier", schwärmt Andrew Seigner. Wovon sie träumen? Dass sie mit ihrem Programm einen heißen Trend erwischt haben. So viel ist sicher. Das haben sie.

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