Betroffene und Experten kritisieren
Pflegegeld trotz Inflation seit 2017 nicht angepasst: Wird häusliche Pflege benachteiligt?

24.01.2023 | Stand 17.09.2023, 4:50 Uhr

Experten kritisierten stationär-zentrierte Pflegepolitik. −Foto: imago

Rund 3,9 Milliarden Menschen werden zu Hause gepflegt. Das Pflegegeld wurde trotz Inflation aber seit 2017 nicht mehr angehoben. Betroffene fragen sich deshalb: „Ist häusliche Pflege weniger wert als die Pflege im Heim?“



Es ist ein dramatischer Schicksalsschlag, der das Leben einer Seniorin aus dem Raum Vilshofen plötzlich auf den Kopf stellt. Vor etlichen Jahren erkrankt ihr Ehemann schwer – so schwer, dass ein selbstbestimmtes Leben für ihn unmöglich wird. Ihren Namen möchte die Seniorin nicht veröffentlicht wissen, doch ihre Sorgen schildert sie im Gespräch mit der Redaktion. Ihr Gatte braucht fortan permanent Unterstützung: Pflegegrad 5, den die Pflegekassen wie folgt definieren: Betroffene hätten „schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit mit besonderen Anforderungen für die pflegerische Versorgung“. Doch die Seniorin will ihren Gatten zu Hause betreuen, trotz geringer Unterstützung.

„Versorge meinen Mann das ganze Jahr, jeden Tag“

„Ich versorge meinen Mann das ganze Jahr, jeden Tag“, sagt sie. Neben der körperlichen und mentalen Belastung belastet sie besonders ein Punkt: die Pflegekosten. Von der Pflegekasse erhält sie für die Betreuung monatlich 901 Euro – seit Jahren, wie sie sagt. Trotz Inflation, trotz veränderter Lebenshaltungskosten blieben die Sätze in der Nächstenpflege unverändert. Ihre Frage: „Ist häusliche Pflege weniger wert als die Pflege im Heim?“

Eine Frage, die auch den Sozialverband VdK schon lange umtreibt. Madeleine Viol ist dort Referentin für Pflegepolitik. Ihrer Ansicht nach läuft beim Thema häusliche Pflege einiges schief. So schief, dass der VdK derzeit sogar klagt. Denn: Seit 2017 hat die Regierung das Pflegegeld nicht mehr erhöht, hätte dies nach Ansicht des Verbands jedoch bereits 2020 tun sollen. Der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) habe die jährlich dafür vorgesehenen 1,8 Milliarden Euro stattdessen in stationäre Pflege investiert, heißt es in einer Pressemittelung.

Und das ist Viol zufolge schon der Kern des Problems. Deutschland habe eine stationär-zentrierte Pflegepolitik. „Wir haben keinen Blick auf ambulant gepflegte Menschen“, sagt sie. Dabei würden derzeit rund 3,9 Millionen Menschen zu Hause betreut. Doch diese Gruppe fände kaum Beachtung.

Laut einer Modellrechnung des VdK hätte das Pflegegeld für Patienten der Stufe 5 um 159,26 Euro erhöht werden müssen – allein um den Kaufkraftverlust der vergangenen Jahre auszugleichen. Das wäre für Viol ein Schritt in die richtige Richtung und würde Pflegebedürftigen helfen. Ihre Pfleger – ob Eheleute, Kinder, Nachbar oder Freunde – würden davon jedoch nur wenig profitieren. Denn das Pflegegeld steht ausschließlich dem Patienten zur Verfügung, nur 37 Prozent der Pflegenden gaben in einer VdK-Studie an, einen Teil oder das gesamte Geld zu erhalten. Meist müssten sie es dann für laufende Pflegekosten ausgeben. Eine Entlohnung für Arbeit und Zeit? Fehlanzeige.

Gesundheitsministerium stellt Reform in Aussicht

Deshalb fordert der VdK zusätzlich: Pflegende Angehörige sollten einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung erhalten. Er begründet dies unter anderem mit dem überproportional hohem Armutsrisiko bei der Nächstenpflege, rund ein Drittel der Pflegenden beklage finanzielle Sorgen.

Dabei müsste nach Viols Ansicht die Regierung um jeden froh sein, der seine Angehörigen zuhause betreut. Schließlich gäbe es kaum freie Plätze in den Pflegeheimen und der seit Jahren herrschende Fachkräftemangel beutle die Pflegebrache stark. Deshalb brauche es niedrigschwellige Unterstützung für Pflegewillige, keine Hürden. Dass die Regierung die ambulanten Sachleistungsbeträge, also die Sätze für ausgebildete Pflegekräfte, Anfang 2022 erhöht hat, ist den Nächstenpflegern wohl kaum ein Trost. Federführend für die Pflegesätze ist das Bundesgesundheitsministerium. Also hat die Mediengruppe Bayern nachgefragt: Ist eine Anhebung in Planung? Wann könnten Betroffene damit rechnen und wie hoch könnte sie sein? Die Antwort: „Die anstehende Entscheidung über die Höhe der Anpassung des Pflegegelds ist in ein Gesamtkonzept zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung einzubetten.“

Heißt? Jedenfalls nichts Konkretes. Die Fragen der Vilshofener Senioren bleiben offen. Zumindest eine Willensbekundung, die Sätze anzuheben, macht das Gesundheitsministerium. Der Koalitionsvertrag sehe Leistungsverbesserungen für häuslich versorgte pflegebedürftige Menschen vor. Später heißt es, dass das Ministerium zu einer „bevorstehenden Reform“ noch keine Angaben machen könne. Zumindest scheint eine Reform auf dem Plan der Ampel zu stehen – ein Hoffnungsschimmer für Betroffene.