München
Die Steilwandfahrer auf der Wiesn

"Pitt's Todeswand" ist sechs Meter hoch und hat einen Durchmesser von zwölf Metern und ist nur etwas für waghalsige Motorradfahrer

23.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:16 Uhr

Eine Attraktion auf der Wiesn: Jagath Perera fährt seit 20 Jahren im Holzkessel von Pitt'Todeswand. - Foto: Stäbler

München (DK) Der Fünf-Euro-Schein in der Hand des Zuschauers zittert so stark, dass man es mit bloßem Auge erkennen kann - und dennoch steuert Jagath Perera geradewegs darauf zu. Wäre man Filmregisseur, würde man jetzt das Bild teilen: links der Zuschauer, der mit offenem Mund und aufgerissenen Augen auf der Galerie hinter der Kante des Holzkessels steht; rechts der lässig lächelnde Jagath Perera, der im Kesselinneren auf seiner roten Indian Scout 101, Baujahr 1928, dem Geldschein immer näher kommt.

Bei Tempo 70 droht sein Motorrad über die Kante hinauszuschießen - ein Raunen geht durchs Publikum, eine Zuschauerin stößt einen spitzen Schrei aus. Doch im letzten Moment dreht Jagath Perera ab, fährt seinen Arm aus und schnappt sich den Schein aus der immer noch zitternden Hand.

Willkommen im Holzkessel von "Pitt's Todeswand", zwölf Meter Durchmesser, sechs Meter hoch, eines von mehr als 150 Fahrgeschäften auf dem Münchner Oktoberfest - und doch viel mehr als das.

Schon 1932 bestaunen die Wiesn-Besucher die waghalsigen Motorradfahrer um Gründer Peter "Pitt" Löffelhardt. Seine Todeswand gehört kurz vor und nach dem Krieg zu den beliebtesten Attraktionen überhaupt - nicht zuletzt wegen Käthe Müller, der Steilwand-Kitty, die auch Karl Valentin begeistert: "Was die für einen Schneid hat, da kann sich mancher Schneider dran ein Beispiel nehmen."

Ab den 1960er-Jahren jedoch folgt der schleichende Niedergang der stolzen Steilwandfahrer. Nach mehreren Zwangspausen kehrt die frisch restaurierte "Pitt's Todeswand" 2004 zurück - und hat bald einen neuen Star: Jagath Perera, seit zwanzig Jahren Fahrer, inzwischen auch Teamleiter und Co-Besitzer. Der gebürtige Sri Lanker gilt als einer der besten Steilwandfahrer der Welt. Während der 15-minütigen Vorstellung - Eintrittspreis fünf Euro - jagt er mit diversen Maschinen durch den Kessel, klettert über den Lenker, fährt freihändig und pflückt Geldscheine aus den Händen der Zuschauer, die von oben und hinter zwei Drahtseilen staunend hinabblicken. Und all das tut Jagath Perera mit der Gelassenheit eines tibetischen Mönchs. "Du darfst keine Angst haben", erklärt der 45-Jährige später im Wohnwagen, in dem er und sein Team während der Wiesn leben. "Keine Angst, aber Respekt." Er selbst ist bereits als Elfjähriger in Sri Lanka heimlich auf dem Motorroller des Bäckers gesessen. Als Jahre später ein deutscher Urlauber namens Hugo Dabbert nach einem "verrückten Motorradfahrer" sucht, empfiehlt ein Hotelbesitzer Jagath Perera. Der sitzt wenige Wochen später im Flieger und wiederum wenige Tage später auf einer Maschine in Dabberts "Original Motodrom" - eine Steilwand, die sogar noch ein paar Jahre älter ist als "Pitt's Todeswand". Schon am dritten Tag landet der Neuling im Krankenhaus - Nasenbeinbruch und Gehirnerschütterung. "Das Risiko gehört dazu", sagt Jagath, der das Fahren im Motodrom lernt und später die Todeswand übernimmt. "Aber für mich ist es immer noch purer Spaß, wenn ich auf dem Motorrad sitze."

In all den Jahren hat Jagath viele Steilwandfahrer ausgebildet. Was man mitbringen muss? "Man braucht keine starken Muskeln, aber ein starkes Herz", sagt er - und meint das auch wörtlich. Denn auf den Körper eines Steilwandfahrers wirkt eine immense Fliehkraft, sodass es einem das Blut aus dem Schädel presst. "Der Druck ist extrem" sagt Perera - ein Satz, den der Reporter bereits nach ein paar Runden als Sozius auf dem Lenker bestätigen kann: Im Vergleich zur Steilwand fühlt sich jede Achterbahnfahrt wie eine Runde auf dem Kinderkarussell an.

Und doch sind es weder die Strapazen noch das Risiko, deretwegen Jagath Perera vom Steilwandfahren als "aussterbendem Gewerbe" spricht. Vielmehr kämpft auch "Pitt's Todeswand" mit ganz anderen Problemen: "Die Jugendlichen haben kein Interesse mehr", sagt er "Die hängen lieber am Smartphone." Inzwischen hat der 45-Jährige neben der Todeswand, mit der er durch halb Europa über Jahrmärkte tingelt, eine zweite Steilwand erworben. Mit ihr fährt er zu Motorradrennen und Ausstellungen, wo es eine fixe Pauschale gibt - unabhängig vom Wetter und unabhängig von der Laune der Besucher. Wobei Jagath Perera noch einen großen Traum hat: "Ich würde mit meiner Steilwand gerne nach Las Vegas fahren", sagt er, lehnt sich ins Blumenmuster des Wohnwagen-Sofas zurück und ist in Gedanken weit weg. "Irgendwann mache ich das noch."