München wagt die Radl-Revolution

Stadt macht bei Verkehrswende ernst - und gibt 1,6 Milliarden Euro für den Ausbau von Radwegen aus

22.06.2020 | Stand 23.09.2023, 12:28 Uhr
Patrik Stäbler
Den Weg frei machte Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) gestern für die zeitlich befristeten Popup-Radwege. −Foto: Stäbler

München - Die Ampel ist längst auf Grün gesprungen, doch ans Losfahren ist noch nicht zu denken - hier an der Reichenbachbrücke, unweit des Deutschen Museums.

Rad an Rad stehen die Wartenden hintereinander, ganz vorne in der Schlange setzen sich die ersten in Bewegung. Doch bis das eigene Gefährt endlich losrollt, wird es noch eine weitere Ampelphase dauern. Nun ist dies in der Münchner Innenstadt nichts Ungewöhnliches - Stau gehört hier zum Autofahren wie der süße Senf zur Weißwurst. Doch in diesem Fall sind es nicht etwa Autos, die mehrere Grünphasen benötigen, ehe sie über die Kreuzung kommen, sondern Fahrräder. "Es gibt neuralgische Punkte in der Stadt, an denen wir Kapazitätsprobleme auf den Radwegen haben", sagt Andreas Groh vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) München. Zumal in Zeiten der Corona-Pandemie, in der bis zu ein Viertel mehr Radler unterwegs sind als sonst.

Wird München da dem Titel "Radlhauptstadt" gerecht, den das Rathaus vor zehn Jahren für eine Imagekampagne ersonnen hat? "Der Anteil der Radfahrer ist bei uns ziemlich hoch", sagt Groh - einerseits. Andererseits betont er sogleich: "Aber wenn wir uns mit echten Fahrradstädten wie Kopenhagen vergleichen, dann haben wir noch einen weiten Weg vor uns. " Bester Beweis ist der sogenannte Copenhagenize-Index, der alle zwei Jahre die radfreundlichsten Städte der Welt kürt. Ganz vorne lagen zuletzt Kopenhagen, Amsterdam und Utrecht; bester deutscher Vertreter war Bremen auf Rang elf. Und die bayerische Landeshauptstadt? Sie ist 2019 aus den Top 20 gefallen. In allen Rankings zum Thema Stau dagegen landet München zuverlässig auf einem Spitzenplatz.

Wohl auch deshalb will das Rathaus jetzt ernst machen in Sachen Verkehrswende - und die ehrgeizigen Pläne verheißen nicht weniger als eine Radl-Revolution. So will die Stadt bis 2025 satte 1,6 Milliarden Euro für den Neu- und Ausbau von Radwegen ausgeben - auf einer Strecke von 450 Kilometern. Unter anderen soll der lange ersehnte Altstadt-Radlring entstehen, auf dem Fahrradfahrer die Innenstadt schnell und sicher umrunden können. Und von diesem zentralen Ring, so der Plan, werden dereinst Radschnellwege ins Umland abzweigen: sogenannte Rad-Autobahnen, die mindestens vier Meter breit sowie möglichst kreuzungsfrei sind. Ein erster Radschnellweg in den Norden nach Garching ist bereits in Planung; für weitere Strecken werden derzeit Trassen gesucht.

"Ich bin absolut zuversichtlich, dass sich in den kommenden Jahren viel verändern wird", sagt Groh. Ein Grund hierfür ist die neue grün-rote Koalition im Rathaus. "Jetzt haben zwei Parteien eine Mehrheit, die beide ganz klar den Radverkehr fördern wollen", sagt Florian Paul, Fahrradbeauftragter der Stadt. Dazu haben im Vorjahr zwei Bürgerbegehren zum Altstadt-Radlring und zum Radentscheid München das Rathaus unter Zugzwang gesetzt. Nachdem die Initiatoren 160000 Unterschriften gesammelt hatten, übernahm der Stadtrat ihre Ziele, zu denen unter anderem ein flächendeckendes, sicheres und engmaschiges Radwegenetz gehört.

Zu alledem kommt nun noch die Corona-Krise, die dem Verkehrsmittel Fahrrad nicht nur in München einen Schub verpasst. "Im Mai haben wir an unseren Messstellen 25 Prozent mehr Radler registriert als im Mai vor einem Jahr", berichtet Paul. "Und das in einer Zeit, in der die Schulen noch weitgehend geschlossen waren. " Der Fahrradbeauftragte verweist zudem auf den Ansturm auf Fahrradgeschäfte in den vergangenen Wochen. "Es wurden unfassbar viele Räder gekauft", sagt Paul. "Und ich gehe fest davon aus, dass dieser Trend keine Eintagsfliege ist, sondern auch nach Corona andauern wird. "

Einen Vorgeschmack, wie sich die Verkehrswende auf Münchens Straßen auswirken wird, ist diese Woche zu erleben. So hat die Stadt am Montag begonnen, sechs zeitlich befristete Radwege zu markieren - sogenannte Popup-Radwege, für die bis Oktober jeweils eine Autofahrspur umgewidmet wird. Hintergrund der Aktion, mit der München dem Vorbild von Städten wie Berlin und Wien folgt, ist die Corona-Pandemie, deretwegen Radlern mehr Platz eingeräumt werden soll. Und doch lassen sich die Popup-Radwege auch als Fingerzeig verstehen, wie sich die Kräfteverhältnisse auf Münchens Straßen langsam verschieben. So sagt der Fahrradbeauftragte Paul mit Blick auf die Rad-Pläne im Rathaus: "Fußgängern und dem öffentlichen Nahverkehr soll nichts weggenommen werden. Im Zweifel wird die Verbesserung der Radinfrastruktur zulasten des KFZ-Verkehrs gehen. "

Dies dürfte vielerorts zu Protesten führen - so wie sie die Stadt bereits in der Fraunhoferstraße erlebt hat. Dort mussten vor einem Jahr 120 Parkplätze für einen neuen Radweg weichen. In der Folge kam es zu wütenden Protesten von Anwohnern und Geschäftsleuten; auch die Münchner CSU schloss sich der Kritik an und wetterte im Wahlkampf gegen "Rot-Grüne RADikal-Politik". Wirklich erfolgreich waren die Christsozialen damit aber nicht, weshalb Groh vom ADFC betont: "Zwei Drittel der Wähler haben für Parteien gestimmt, die den Radentscheid unterstützen. Die Message ist klar: Die Mehrheit ist der Meinung, dass wir eine bessere Radinfrastruktur in München brauchen. "

DK

Patrik Stäbler