München
Plötzlich ist die Unbekümmertheit weg

Ein Ingolstädter war Zeuge des blutigen Geschehens von München und erzählt von seiner Flucht und den Folgen der Tat

26.07.2016 | Stand 02.12.2020, 19:30 Uhr

München/Ingolstadt (DK) "Es war wie in einem Videospiel oder Film. So unreal." Jens M. wirkt noch immer ungläubig, wenn er von seinen Erlebnissen am Freitag erzählt. Ein schwarzer Freitag für München. Der 28 Jahre alte Ingolstädter befand sich direkt am Tatort, als die ersten Schüsse am Olympia-Einkaufszentrum fielen. Am Ende waren zehn Menschen tot, darunter der mutmaßliche Angreifer, weitere 35 verletzt. Jens M. hatte sich nebenan befunden und in wilder Flucht davongemacht. Eine blutende Hand, mehr passierte ihm nicht.

"Mir geht es gut", sagt der junge Mann vier Tage danach mit fester Stimme. Aber das Geschehen ist nicht spurlos an ihm vorübergegangen, das hört man im Gespräch mit ihm schnell heraus. Und es sind nicht nur Einschlafstörungen, die ihn seither manchmal plagen. Hängen geblieben sind aber auch positive Erfahrungen mit wildfremden Menschen, die ihm spontan geholfen hatten.

Der Ingolstädter hatte am Freitag in einem Elektronikmarkt an der Hanauer Straße gleich gegenüber vom Einkaufszentrum gearbeitet, als gegen 17.40 Uhr, etwa 20 Minuten vor Beginn der Schießerei, der Anruf einer Bekannten bei ihm einging. "Ich bin kurz hinaus auf den Parkplatz, um in Ruhe mit ihr reden zu können", erinnert sich der studierte Soziologe. "Dann habe ich dreimal ein Knallen gehört, ich konnte es zuerst nicht einordnen." Vielleicht ein paar Chinaböller? Es waren aber keine Feuerwerkskörper. "Als es wieder und wieder gekracht hat und die Leute in Panik gelaufen sind, war mir schnell klar: Da schießt einer! Mir ist die Gefahr schlagartig bewusst geworden."

Jens M. nimmt die Beine in die Hand, doch die Flucht gestaltet sich nicht ganz einfach. Eine Knieverletzung vom Fußballspielen war erst operiert worden, da funktioniert das Laufen noch nicht so recht. "Aber man schafft einiges, wenn der Schütze nur 50 Meter entfernt ist", sagt er. Gefühlt habe er in dem Moment nichts, nicht mal Angst. Nur weg hier, war sein einziger Gedanke. Über eine zwei Meter hohe Absperrung macht er sich davon, reißt sich am Zaungitter die linke Hand auf und bringt sich im Wohngebiet in Sicherheit. Erst als einige Häuser zwischen ihm und dem Einkaufszentrum liegen, hält er inne. Er trifft auf andere Leute, die in Panik davongestürmt waren. "Eine Frau hat voll geweint, sie hat wohl gesehen, wie jemand erschossen worden ist", sagt Jens. Seine Hand blutet und schmerzt. Ein Elternpaar mit einem etwa zweijährigen Kind kommt des Wegs. "Kann ich mit euch rauf in die Wohnung und das verbinden", fragt er die Fremden. "Da war kein Zögern, gar nichts. Sie haben mir sofort geholfen und mich verarztet."

Zurück auf der Straße will der Ingolstädter wenig später wieder seinen Arbeitsplatz aufsuchen. "Dort war aber bereits alles gesperrt. Jemand hat was von mehreren Täter gesagt, ich habe dann doch ein wenig Angst gekriegt. Also bin ich zurück in die Wohnsiedlung und habe wahllos irgendwo geklingelt." Ein Ehepaar mit einem etwa sechsjährigen Sohn öffnet ihm. "Sie haben mich sofort hereingelassen und mir für die Nacht Asyl gewährt." Jens M. ist noch immer voller Dankbarkeit.

Der 28-Jährige ruft seine Mutter an, die sich bei einem Konzert im Ingolstädter Klenzepark befindet und noch gar nichts von der Schießerei weiß. "Zuerst habe ich Angst um sie gehabt, nicht dass da auch noch was passiert." Er berichtet ihr von seinen eigenen Erlebnissen und beruhigt sie. "Mach dir keine Sorgen, ich bin in Sicherheit", sagt er der Mutter. Der Abend bei den freundlichen und hilfsbereiten Gastgebern in München ist mit Telefonieren ausgefüllt. Familie, Freunde und Verwandte wollen wissen, ob es ihm gut geht. Er kann sie alle beruhigen. Vor dem Fernseher verfolgt er das nur wenige Hundert Meter entfernte Geschehen. "Am nächsten Tag hat mich dann mein Bruder abgeholt und heimgebracht."

Gestern musste Jens M. zurück nach München, um seine Wertsachen zu holen, er hatte sie Freitagabend in der Arbeit zurückgelassen. "Es ist schon ein leicht mulmiges Gefühl", gesteht er. In den vergangenen Tagen kämpfte er mit Einschlafstörungen, abends kommen die Erinnerungen. "Ich habe mir jetzt angewöhnt, einen Melissentee vor dem Bettgehen zu trinken, das hilft." Einmal plagte ihn ein Albtraum. "Zwei Männer mit Messern haben mich im Olympia-Einkaufszentrum verfolgt, und ich bin wegen meines Knies nicht schnell genug weggekommen. Ich habe geschrien, sie sollen mich in Ruhe lassen." Seine Aufarbeitung des Geschehens. Träume reinigen.

Die Chancen, ein solches Erlebnis unbeschadet abzuhaken, stehen gar nicht schlecht. Das sagt Thomas Pollmächer, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik am Klinikum Ingolstadt. "Es ist nur ein kleiner Teil der Menschen, der nach solchen Ereignissen eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. Da kann es passieren, dass man in einem kontinuierlichen Zustand der Überwachheit ist. Die Leute sind schreckhaft oder haben wiederkehrende Träume." Bilder würden in ähnlichen Lebenssituationen wieder aufblitzen, dafür reichten oft ganz einfache Reize. Das könne bei manchen Betroffenen "sehr beeinträchtigend werden".

Pollmächer rät in solchen Fällen zur psychotherapeutischen Betreuung. Wichtig sei, Betroffenen erst mal Ruhe zu gönnen, um das Erlebte zu verdauen. Sie in Therapien zu drängen sei eher kontraproduktiv. Denn die meisten Menschen würden das Erlebte in einem Selbstheilungsprozess reflektieren und Negatives verdrängen. "Der Großteil verarbeitet so etwas relativ problemlos."

Wie Jens M. aus Ingolstadt. Er glaubt fest daran, das Geschehen aufarbeiten zu können. Er ist jedoch nachdenklicher geworden: "Vorher war ich unbekümmerter. Da bin ich in den Zug gestiegen und habe schon mal geschlafen. Jetzt hat man mehr ein Auge drauf, wer da einsteigt und was um einen herum passiert. Aber das geht anderen Menschen wahrscheinlich genauso, nach allem, was zuletzt hier passiert ist."