Pfarrkirchen
Mit Virtueller Realität gegen die Angst

In Pfarrkirchen nutzt ein Heilpraktiker digitale Welten, um Menschen ihre Ängste zu nehmen.

04.02.2019 | Stand 02.12.2020, 14:42 Uhr
Patientin Marion Wack mit Heilpraktiker Gerhard Stummer. −Foto: Veronika Weidlich

Phobien können Menschen krank machen. In Pfarrkirchen (Kreis Rottal-Inn) verfolgt der Heilpraktiker Gerhard Stummer einen modernen Therapieansatz. Er nutzt digitale Welten, um Menschen ihre Ängste zu nehmen.


  
Konfrontation ist der Schlüssel zum Erfolg. Nur wer sich seiner Angst stellt, kann sie langfristig überwinden. Davon ist Gerhard Stummer überzeugt. Sein Spezialgebiet sind Angststörungen. Die meisten seiner Patienten haben Angst, Auto zu fahren oder zu fliegen. Sie haben Angst vor Spinnen oder vor Höhe, leiden unter Zwangsstörungen wie Wasch- oder Kontrollzwang oder unter Sexualstörungen. Um diese Menschen mit ihren Ängsten zu konfrontieren, setzt der Heilpraktiker auf die Kombination verschiedener Therapieansätze: Hypnose, EFT-Massage (Klopftherapie) - und vor allem Virtuelle Realität. Deutschlandweit ist er bislang der einzige Verhaltenstherapeut, der auf diese Technik setzt.

 
Der 53-Jährige aus Pfarrkirchen (Landkreis Rottal-Inn) ist ein echter Tausendsassa. Acht Berufe hat er seinen Angaben nach gelernt. Stummer ist unter anderem Bäckermeister, arbeitete als selbstständiger Textilhändler, war Abteilungsleiter in einem Modehaus, IT-Administrator, studierte dann Psychologie. Seit neun Jahren führt er eine Heilpraktiker-Praxis in Pfarrkirchen.

Ein feines, mildes Lächeln ziert das Gesicht des Buddhas, dessen Bild im Behandlungszimmer hängt. Der helle Raum ist weiß und grün gestrichen. Im Hintergrund läuft leise, meditative Musik. Auf einem Tisch steht eine Karaffe mit Wasser und Energiesteinen. Eine Packung Kleenex steht griffbereit - für Tränen.

"Die alternative Medizin ist nicht sehr Technik-affin." Stummer ist dabei, das zu ändern. Schon früh war er von den Möglichkeiten der Virtuellen Realität (VR) begeistert. Sie ermöglicht die "Immersion", das Eintauchen des Menschen in eine digitale Welt. Auf einem großen Fernseher loggt sich der Heilpraktiker dazu in die Therapie-Software ein. Er kann nun zwischen verschiedenen Szenarien wählen: Höhenangst, Flugangst, Angst vor Spinnen, Angst vor Dunkelheit oder soziale Phobien, wie der Angst, vor vielen Menschen zu sprechen. Das ausgewählte Szenario wird per App auf dem Smartphone geladen und vor die VR-Brille geschnallt, die der Patient aufsetzt. Er hat nun eine 360-Grad-Sicht auf das ausgewählte Szenario, er ist umgeben von der virtuellen Welt. Der Heilpraktiker betrachtet das Szenario währenddessen auf dem Fernseher. Per Bildschirmnachricht kann er dem Patienten Anweisungen geben. Ein um den Finger gewickeltes Messband soll dessen Schweißproduktion erfassen und so Rückmeldung über sein Stress-Level geben.

Zwei Hände ruhen auf einem Holztisch in einem dunklen Raum. Man sieht, dass die Umgebung digital animiert ist. Der Heilpraktiker kann die Anzahl und die Größe der Spinnen, die über den Tisch krabbeln, variieren. Die kleinsten Tiere sind etwa so groß wie die digital animierten Fingerkuppen, die größten haben den Durchmesser der Handfläche. Im niedrigsten Stress-Level krabbeln sie in einem Terrarium, das auf dem Tisch steht, im höchsten über die animierten Hände.Die Aufzugtür schließt sich, der Raum ist eng. Es geht nach oben. Dort angekommen, blickt man in einen engen Gang. An dessen Ende erwartet den Betrachter eine Dachterrasse, mit grandiosem Blick über eine animierte Stadt. Wolkenkratzer ragen in die Luft. Um das Eintauchen in diese digitale Welt möglichst realistisch zu machen, schaltet Stummer den Ventilator ein: Wind in luftiger Höhe. Neben dieser Konfrontation mit angstauslösenden Szenarien setzt Stummer bei der Verhaltenstherapie vor allem auf Hypnose und die EFT-Massage. Dabei klopft er mit dem Finger bestimmte Körperstellen der Patienten ab, hilft ihnen so, sich zu entspannen. Um die Angst vor Spinnen in den Griff zu bekommen, seien vier bis acht Sitzungen notwendig. Dass die Angst vollständig verschwindet, kann der Heilpraktiker nicht garantieren.
 

Welche Menschen suchen seine Hilfe? "Überdurchschnittlich kluge, rationale Menschen, kopflastige Menschen sind eher gefährdet, Angst- und Zwangsstörungen zu entwickeln", berichtet der Heilpraktiker. Zu seinen Patienten zählt der Student ebenso wie der "Unternehmer, der Angst hat vor Mitarbeitern zu sprechen". Stummers jüngster Patient ist zwölf, sein ältester 80 Jahre alt.

Marion Wack kommt seit gut einem Jahr. Seit etwa 20 Jahren leidet sie an Agoraphobie: Sie hat Angst vor weiten Räumen und vor Höhe. Die Angst war so groß, dass die 46-Jährige zeitweise ihr Haus nicht mehr alleine verlassen konnte. "Ich habe den ganzen Tag eigentlich nur auf der Couch verbracht." Panikattacken mit Herzrasen bestimmten ihren Alltag, nur mithilfe von Tabletten konnte sie sich beruhigen. "Das vereinnahmt dich so, dass du am Leben eigentlich überhaupt nicht mehr teilnimmst", beschreibt Monika Wack den Zustand.

Von der Behandlung mit VR-Brille, Hypnose und Klopftherapie erhofft sie sich, wieder ein Leben ohne Angst führen zu können. "Ich möchte meine Unabhängigkeit wieder. Dass ich nicht darauf angewiesen bin, dass jemand vorbeikommt, der mit mir einkaufen geht." Bislang helfe die Therapie "unwahrscheinlich viel", vor allem die Konfrontation mit angstauslösenden Szenarien mittels VR-Brille. "Es ist schon krass zu sehen, dass das doch so wirklich ist. Man kommt sich vor, als wenn man wirklich in dieser Situation drin steht."

Doch woher kommen Phobien? "Unsere Lebensweise führt dazu, dass die Angststörungen mehr werden", ist Stummer überzeugt. "Die Menschen wollen perfekt sein." Doch auch die gestiegenen Anforderungen in vielen Berufen und die permanente Verfügbarkeit tragen zur Ausbildung von Phobien bei. "Unser soziales und berufliches Leben hat eine ungesunde Entwicklung genommen. Die Anforderungen steigen, der Druck steigt." Ängste werden durch Vermeidungsverhalten verstärkt. Ein Teufelskreis.

Skeptisch blickt Stummer auf den Einfluss von Sozialen Medien. "Whats-App ist für mich eine Hundeleine." Der Messenger-Dienst führe zu einer "Virtualisierung der Freundschaften". Wohl auch weil er weiß, dass Soziale Medien für viele Menschen Stress bedeuten, ist Stummer so etwas wie ein digitaler Asket. Er hat weder einen Facebook-Account noch Whats-App. "Das ist die Zukunft, aber nicht meine." Wer etwas von ihm möchte, der könne ihm eine E-Mail schreiben oder zu ihm kommen. Sein Blick in die Zukunft ist düster. "Ich glaube, dass die Angststörungen noch deutlich zunehmen werden. Wo das hinführt, macht mir Kopfzerbrechen."