Ingolstadt
Dem Pfeifen auf der Spur

Wie sich ein Akustikraum an der TH Ingolstadt auf Tinnitus auswirkt Projekt als Teil eines EU-Forschungsprogramms

04.08.2017 | Stand 02.12.2020, 17:41 Uhr

Tiefes Schwarz und die geometrischen Formen der schallschluckenden Wände bestimmen das Bild in der Akustikkabine an der Technischen Hochschule Ingolstadt. Josef Pöppel (Bild) hat festgestellt, dass manche Menschen mit Tinnitus sich nach einem Aufenthalt dort merklich besser fühlen. - Foto: Richter

Ingolstadt (DK) Josef Pöppel ist kein studierter Mediziner. Er arbeitet als Professor für elektrische Mess- und Schaltungstechnik sowie Akustik an der Technischen Hochschule Ingolstadt (THI). Und doch befasst er sich seit Jahren nebenbei mit gesundheitlichen Themen, weil er ein aufmerksamer Beobachter ist. Das hängt mit einem Phänomen zusammen, das in der Akustik-Kabine seines Fachbereichs auftritt.

Immer wieder berichten Menschen von erstaunlichen Wirkungen, nachdem sie sich in dem Raum aufgehalten haben. Tinnitus-Geplagte hören das nervige Dauerpfeifen auf einmal nicht mehr, Allergiker oder Asthmakranke spüren eine Besserung ihres Zustands. Wie es dazu kommt, lässt sich bisher nicht erklären. Inzwischen gibt es ein Tinnitus-Projekt an der Hochschule.

Eines gleich vorweg: Es handelt sich hier nicht um eine "Wunderkabine" oder beliebig reproduzierbare, auf jeden anwendbare Effekte. Wissenschaftliche Studien existieren bis dato keine, nur eben jene Auffälligkeiten, deren Hintergründe es akribisch zu erforschen gilt. Der elektrisch abgeschirmte Raum war 2006 entstanden, Wände und Decke sind mit schallschluckendem Material verkleidet. Ein "anechoisches" oder reflexionsarmes Umfeld, wie der Fachmann sagt. Wortlaute oder andere Geräusche verschwinden beinahe im Nichts, statt widerzuhallen. Jeglicher Lärm von der Außenwelt ist abgeschottet, die dicke, mehrschichtige Tür lässt nichts durch. Stille total, zumindest fürs menschliche Ohr.

"Normalerweise finden in der Kabine Funk- und Schallmessungen statt", sagt Josef Pöppel. Aber schon im ersten Jahr ihres Bestehens machte die Aussage einer Besucherin ihn stutzig. Die Frau, eine Lehrerin, wunderte sich nach der Besichtigung des 30 Quadratmeter großen Raums: "Mein Tinnitus ist weg!" Der Professor nahm es zur Kenntnis. "Leider wissen wir nicht, wer sie war und ob das angehalten hat", sagt er heute. Er wüsste es nur zu gerne, denn anderen erging es in der Folge ähnlich. Gut 800 Menschen hat Pöppel seither durch die Kabine geschleust, einige blieben zehn Minuten, andere eine Stunde. Viele kamen wieder und baten um eine Wiederholung, weil es ihnen gutgetan hatte. Rund zehn Prozent meldeten eine Verbesserung bezüglich ihres Tinnitusleidens, aber auch etliche Allergiker, Asthma- und Arthrosekranke oder an Multipler Sklerose leidende Patienten fühlten sich nach einem Aufenthalt in der Kabine wohler. Wie der Fall eines Jugendlichen mit temporärem, minutenlangem Rauschen im Ohr und anschließendem stundenlangem Kopfdruck. Nach wenigen Sitzungen war die Plage verschwunden, der Erfolg hält an. Nur Einzelfälle aus wissenschaftlicher Sicht, aber doch bemerkenswert.

"Um das alles genau zu untersuchen, bräuchten wir eine medizinische Fakultät", sagt Josef Pöppel. Weil es eine solche aber nicht gibt, und er das Ganze selbst überaus faszinierend findet, rief die THI das Tinnitus-Projekt ins Leben. Wann immer jemand die Kabine besucht, erfasst der Professor die Empfindungen der Probanden. "Da drin passiert von unserer Seite eigentlich gar nichts. Es handelt sich einfach um einen passiven Raum, akustisch nach außen abgekoppelt." Mehr nicht. Es gibt weder eine Beschallung noch sonstige bewusste Einflüsse.

Meditative Elemente spielen sicher eine Rolle. Hier drin können Versuchspersonen in die Stille und in sich selbst hineinhören. Manche spüren etwas im Bauch, andere ein Kribbeln in Armen und Beinen, alte Narben schmerzen plötzlich oder es entsteht ein Druck auf den Ohren oder in den Nasennebenhöhlen. Empfindungen, die oft ebenso rasch verschwinden wie sie aufgetaucht sind, um einem Wohlgefühl Platz zu machen.

Einige fühlen sich danach wie neugeboren. "Andere hören hinterher besser", sagt Pöppel. Warum das alles so ist, weiß keiner. Umso mehr wollen er und die TH Ingolstadt als eines von vielen Rädchen im EU-Forschungsprojekt "Tinnet" dazu beitragen, die Zusammenhänge zu verstehen, um Tinnitusgeplagten neue Therapien zu ermöglichen.