Ingolstadt
Wie ein Ingolstädter Pfarrer in Corona-Zeiten mit Angehörigen von Verstorbenen leidet

Der gestohlene Abschied

30.10.2020 | Stand 23.09.2023, 15:08 Uhr
An Allerheiligen und Allerseelen gedenken die Christen der Verstorbenen und besuchen deren Gräber. −Foto: Richter

Ingolstadt - Wenn ein lieber Mensch stirbt, hinterlässt das tiefe Wunden.

 

In diesen Tagen um Allerheiligen und Allerseelen gedenken Christen in aller Welt ihrer Toten, halten inne und beten für die Verstorbenen. Heuer gestaltet sich jedoch manches anders, seit die Corona-Pandemie wütet. Viele Trauernde hatten nicht mal die Möglichkeit, sich von Sterbenden oder Toten würdevoll zu verabschieden. "Dabei ist das besonders wichtig, denn es lässt sich nicht mehr nachholen", sagt Clemens Hergenröder von der Ingolstädter Pfarrei St. Konrad. Es hat dem Geistlichen selbst wehgetan zu sehen, wie Angehörige ausgegrenzt wurden und litten.

Der Pfarrer hat schon viele Menschen am Sterbebett oder kurz nach dem Tod zur Aussegnung besucht. "Ich finde es ganz wichtig, dass die Angehörigen dabei sind. Das bedeutet oft den ersten Schritt in der Trauerbewältigung", sagt Pfarrer Hergenröder. "Auch Kinder und Jugendliche sollte man nicht ausschließen. Wenn man das sensibel macht, nehmen sie keinen Schaden, im Gegenteil. Sie haben noch einen natürlichen Zugang zum Tod und wollen dazugehören. Im Gespräch und gemeinsamen Gebet rückt die gesamte Familie näher zusammen und ist sich gegenseitig eine Stütze. "

Wie wichtig das Abschiednehmen in der Gemeinschaft ist, stellt der Ingolstädter Geistliche immer wieder fest. Mehr als ein Jahr nach einer solchen Aussegnung hatte eine Frau ihm einmal gesagt: "Wir zehren bis heute davon! " Das hat ihn, der sich als Seelsorger im wörtlichen Sinn versteht, natürlich gefreut. "Ich habe es für nicht verhältnismäßig gefunden, dass manche Angehörige zu Beginn des ersten Lockdowns bei Trauerfällen ausgeschlossen waren. "

Fehlende Begleitung macht die Aufarbeitung des Verlusts nicht einfach. "Ich habe gebetet und geweint", erzählt eine 60-Jährige aus Ingolstadt, nachdem sie im April von der Corona-Erkrankung ihres Mannes erfahren hatte. Sie tat alles für ihn, doch sein Zustand verschlimmerte sich. Zuletzt musste er ins Krankenhaus, lag auf der Intensivstation, und reagierte nicht mehr. Einen Tag vor seinem Tod durfte die Ingolstädterin ihn ein letztes Mal kurz in der Klinik sehen, es gab keine Hoffnung mehr. Da bleiben, seine Hand halten, das war ihr nicht gestattet. Der 63-Jährige starb allein. Zurück blieb seine Frau, sie hat den Verlust und die Umstände seines abrupten, völlig unerwarteten Todes bis heute nicht verarbeitet.

"Wenn ich sehe, wie die Leute auf die Straße gehen und demonstrieren, weil das mit Corona angeblich gar nicht so schlimm ist, frage ich mich, ob die noch ganz dicht sind", sagt die Ingolstädterin. Eine Woche nach dem Ehemann war auch noch ihre Mutter gestorben - zwar nicht an Corona, aber ein weiterer herber Verlust. Die kargen Beerdigungen im kleinsten Kreis verstärkten den Schmerz noch und machten die Trauerarbeit schwer. "Das reißt einem alles unter den Füßen weg", erzählt die 60-Jährige.

Die gemeinsame Trauer bei der Beerdigung, das Gefühl, mitfühlende Menschen als Stütze um sich herum zu haben, die Möglichkeit, Trauer offen herauszulassen und zu zeigen - all das hat auch einer 77-Jährigen aus einem kleinen Ort bei Eichstätt gefehlt, als ihr Mann im vergangenen März nach einem Herzinfarkt praktisch von einer Stunde auf die andere starb. "Ich habe mich nicht einmal richtig von ihm verabschieden können", sagt sie. Die Beerdigung im kleinsten Kreis - "das war schon sehr komisch". Deshalb war es ihr ein Anliegen, das ausgefallene Requiem im September nachzuholen. "Gott sei Dank hat das geklappt, jetzt wäre das gar nicht mehr möglich. " Sie betont, wie wichtig ihr die Unterstützung durch die Pfarrer bei der Beisetzung und der späteren Gedenkfeier gewesen sei. "Das war für mich eine sehr große Erleichterung", sagt die 77-Jährige.

Nicht alle brauchen indes die ganz große Beisetzung, um ihren Seelenfrieden zu finden. Die Ingolstädter Gastronomin Monika Häusler etwa hatte Anfang August ihren 91 Jahre alten Schwiegervater Karl Häusler verloren, bekannt als früherer Kripo-Chef von Ingolstadt und Buchautor. Die Monate zuvor waren hart gewesen, die intensive Pflege und das Wissen um den nahenden Tod.

Als er dann gegangen war und sich die engste Familie zur Beisetzung traf, empfand Monika Häusler es als genau richtig: "Das war ein intensiver Abschied und sehr friedlich, weil nicht so viele Menschen da waren. Da hat man sich richtig auf den Verstorbenen konzentrieren können, ohne Ablenkungen. Wir haben das als genau richtig empfunden, und es hat uns in unserer Trauer sehr geholfen. "

"Natürlich erlebt das jeder Mensch anders, ich kenne das", bestätigt Pfarrer Clemens Hergenröder. "Da muss jeder seinen Weg gehen. Für uns Christen ist die Trauerfeier außerdem Ausdruck dafür, dass es für uns weitergeht, es gibt die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Und wenn man nach der Beerdigung zusammensitzt, darf in Erinnerung an den Toten auch mal gelacht werden. Es muss ja irgendwie weitergehen, und der Verstorbene lebt in uns fort. "

DK

Horst Richter