Schrobenhausen
TLVS: Milliardenschweres Rüstungsprojekt geht in die heiße Phase

Gespräch mit dem Geschäftsführer von MBDA Deutschland in Schrobenhausen, Thomas Gottschild

15.10.2020 | Stand 02.12.2020, 10:21 Uhr
Spricht Klartext: Thomas Gottschild, der Geschäftsführer von MBDA Deutschland in Schrobenhausen. Das Unternehmen arbeitet seit über zehn Jahren auf einen Milliardenauftrag im Bereich der Luftverteidigung hin. Jetzt wird es ernst. −Foto: MBDA Deutschland

Schrobenhausen - In grauer Vorzeit hieß es mal Meads, inzwischen TLVS (taktisches Luftverteidigungssystem): MBDA Deutschland, angesiedelt in einem Industriegebiet am Westrand Schrobenhausens, ringt seit mittlerweile über einem Jahrzehnt darum, den Auftrag für ein riesiges militärisches Projekt zu bekommen; es geht um die Nachfolge des in die Jahre gekommenen Luftabwehrsystems Patriot - und es geht um viele Milliarden Euro. Nun stehen die Haushaltsberatungen des Bundestags vor der Tür - es wird also ernst. Im Vorfeld sprachen wir mit dem Geschäftsführer des Unternehmens, Thomas Gottschild.

 

Herr Gottschild, wir berichten ja seit Jahren über das geplante Taktische Luftverteidigungssystem. Bleibt es bei den Planungen oder wird es TLVS eines Tages tatsächlich geben?

Thomas Gottschild: Die Bedeutung von TLVS ist unbestritten: Die Bedrohung aus der Luft ist mit der technischen Entwicklung in den letzten Jahren stetig und deutlich gewachsen. Gleichzeitig sind immer mehr Länder in der Lage Raketensysteme zum Einsatz zu bringen - Stichwort Proliferation. Deshalb hat das Verteidigungsministerium sich ja auch entschieden, TLVS einzuführen. Auf der anderen Seite reden wir über eine technologisch sehr anspruchsvolle Entwicklung, an der ambitionierte und zukunftsorientierte Unternehmen beteiligt sind. Im Volksmund nennt man das auch Rocket Science. Wir und unsere über 80 Partner sind bereit, TLVS in Deutschland an den Start zu bringen. Um Ihre Frage zu beantworten: Jetzt ist die Zeit für TLVS.

Demnächst wird ja der neue Bundeshaushalt aufgestellt - taucht TLVS darin auf?

Gottschild: Wir sehen bedingt durch Corona schon große Risiken für den mittelfristigen Finanzplan. Deshalb ist es unsere Aufgabe, in den nächsten Tagen und Wochen, die Vertragsverhandlungen gemeinsam mit dem Kunden so weit zu führen, dass wir im Haushalt 2021 ausreichend berücksichtigt werden. Das Bundesfinanzministerium erklärt zu seinem Haushaltsentwurf, massiv in die Zukunft zu investieren und internationale Verantwortung übernehmen zu wollen. TLVS ist genau das: eine Investition in die Zukunft, eine Investition in Zukunftstechnologien wie künstliche Intelligenz und Kommunikationstechnologien. Darüber hinaus bedeutet die Bereitstellung von TLVS, Verantwortung für Sicherheit und Verteidigung in Nato und EU zu übernehmen. Auch der Koalitionsausschuss hat ja Mitte des Jahres angekündigt Rüstungsprojekte bevorzugt zu unterstützen, die noch 2021 an den Start gehen. Zusammengenommen, spricht das alles für TLVS.

Eigentlich läuft doch alles für Sie: Deutschland soll mehr Geld für Verteidigung ausgeben. Und: Deutschland scheint ja auch gewillt zu sein, das zu tun, weil man nicht mehr so abhängig von den USA sein will ?

Gottschild: Ich kann das nur unterstreichen. Im Vordergrund steht aus meiner Sicht, dass TLVS ein Eckpfeiler in der Verteidigungsarchitektur der Bundeswehr und seiner Alliierten sein wird. Es ist ein Kernelement der Landes- und Bündnisverteidigung. In Deutschland und Europa erkennen und akzeptieren immer mehr Menschen, dass wir uns um unsere Sicherheit kümmern müssen. Wichtig sind aber gerade jetzt die Impulse, die TLVS für die Wirtschaft insbesondere den Mittelstand in Deutschland setzt.

Warum dauert das eigentlich alles so lang? Allein der Angebotsprozess zieht sich ja inzwischen seit Jahren hin ...

Gottschild: Auch uns dauert das zu lang! Natürlich ist zu berücksichtigen, dass Luftverteidigung und Flugkörperabwehr technisch extrem anspruchsvoll sind und gleichzeitig die Entscheidung für TLVS langfristig wirkt - für die nächsten Jahrzehnte. Es ist nun aber Zeit, die Auswahlentscheidung für TLVS auch wirklich umzusetzen. Aus meiner Sicht ist die deutsche Luftverteidigungsindustrie, dazu zählen beispielsweise auch Hensoldt, Diehl und ESG, bestens aufgestellt. Es gibt darüber hinaus sehr viele kleine und mittelständische Unternehmen, die bundesweit einen wichtigen Beitrag zu TLVS leisten werden. Das sind Unternehmen, die im Bereich Vernetzung, Cyber-Security, Radar, Luft- und Raumfahrttechnik in den nächsten Jahren wichtige Entwicklungen vorantreiben können.

Sie müssen ja in dieser ganzen Zeit das Know-how für TLVS in Ihrem Haus vorhalten ohne einen konkreten Auftrag zu haben. Das muss Sie ja eine Stange Geld kosten. Wie finden das die Controller Ihrer Finanzabteilung?

Gottschild: MBDA steht voll hinter dem Programm - unsere Controller also auch. Das sieht man auch daran, dass MBDA Deutschland seit 2015 weit mehr als 100 Millionen Euro in TLVS investiert hat. Die Summe macht deutlich: Das lässt sich nicht beliebig lang durchhalten. Ein Projekt, ein Programm muss irgendwann auch an den Start gehen, und dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen.

Was würde das für MBDA Deutschland bedeuten, wenn das alles auf der Zielgerade schief ginge?

Gottschild: Es ist ganz klar: TLVS hat eine kaum zu überschätzende Bedeutung für unser Unternehmen, genauso übrigens für die Unterauftragnehmer und wiederum für deren Zulieferer in Bayern und Deutschland. Unsere Mitarbeiter und unsere Partner stehen bereit für dieses Programm. Wichtiger noch als das Schicksal von Unternehmen sind die Ziele, die unser Land mit dem Programm verfolgt. TLVS dient dem Schutz der Zivilbevölkerung und von Soldaten im Einsatz. Unser Land übernimmt Verantwortung für Sicherheit und Verteidigung und das steigert die Glaubwürdigkeit gegenüber unseren Nachbarn. Lassen Sie mich die Antwort auf Ihre Frage also positiv formulieren: Mit TLVS erreichen wir diese Ziele. Sollte TLVS aber nicht positiv entschieden werden, hätte das im Umkehrschluss große Auswirkungen. Das Risiko, dass Deutschland die einzige industrielle Systemfähigkeit im Bereich der Raketenabwehr verliert, wäre sehr hoch.

Und Ihre Partner gehen alle wie Sie ebenfalls aufs Geratewohl in Vorleistung ...?

Gottschild: Nun, das sind Mechanismen in Vertragsverhandlungen, Sie müssen ein Stück weit in Vorleistung gehen, wenn Sie einen wichtigen Vertrag verhandeln. TLVS ist in der Hinsicht natürlich besonders, weil es ein besonders anspruchsvolles Programm ist und eine lange Anlaufzeit hat. Insofern ist das für uns zugegeben grenzwertig. Wir haben auf der anderen Seite sehr gute Controller und Programmmanager, die dafür sorgen, dass wir die mit dem Programm verbundenen unternehmerischen Risiken so gut wie eben möglich managen. Dafür treffen wir bewusste Entscheidungen, die wir zuvor auf Leitungsebene und mit unseren Shareholdern abwägen.

Spielt eigentlich Corona auch in ein solches Langzeitprojekt rein?

Gottschild: Corona beeinflusst und verändert jede unternehmerische Tätigkeit. Das fängt damit an, dass wir derzeit nicht mit dem Kunden an einem Tisch sitzen, sondern eine besondere IT-Plattform für Gespräche und Verhandlungen nutzen. Als Unternehmen hatten wir uns nach ein paar Wochen aber auf die neue Situation eingestellt. Wir haben die IT-Kapazitäten massiv ausgebaut, Möglichkeiten für das Arbeiten von zu Hause verbessert und insgesamt vereinfacht. Als Langzeitprojekt bietet TLVS in der Corona-Zeit die große Chance, einerseits Innovation zu fördern und andererseits dem Mittelstand eine Perspektive weit in die Zukunft zu geben. TLVS ist ein Innovationsmotor für das nächste Jahrzehnt und ein Beschäftigungsmotor noch weit darüber hinaus.

Kann man das benennen, wie viele Arbeitsplätze an TLVS hängen, falls sich die Bundesregierung zur Beschaffung durchringt?

Gottschild: An TLVS werden mehr als 6000 hoch qualifizierte Männer und Frauen arbeiten. Neben der hohen Zahl ist die besondere Qualifikation der Arbeitsplätze wichtig. Ingenieure für Luft- und Raumfahrt, Radartechniker, Informatiker, Elektrotechniker sind an diesem Programm beteiligt.

Gibt es eigentlich einen Zusammenhang zwischen TLVS und dem FCAS-Projekt, das ja auch für Airbus in Manching spannend und wichtig ist?

Gottschild: TLVS und FCAS sind die bedeutendsten sicherheitspolitischen Projekte für Bundeswehr und Industrie. Beide Projekte werden erhebliche Technologiesprünge realisieren, die die strategische Handlungsfähigkeit und technologische Souveränität Deutschlands und Europas weiter vorantreiben werden. Aus wirtschaftlicher Sicht ist es sowohl für FCAS als auch für TLVS wichtig, die Kompetenz in unserem Land und in Europa für Luft- und Raumfahrt zu erhalten und weiter auszubauen. In Konflikten geht es zunehmend um die Sicherung der Luftüberlegenheit, sie ist Voraussetzung, um den Einsatz von zivilen oder im Ernstfall von militärischen Kräften durchzusetzen. TLVS und FCAS sind zwei Seiten einer Medaille: Als Instrument der Verteidigung dient TLVS der Sicherung des eigenen Luftraums, FCAS erlaubt es, aktiv Konflikte einzudämmen. Beide Programme umfassen zudem wichtige Schlüsseltechnologien, die die Bundesregierung definiert hat. Die Programme stärken die industrielle Basis in diesen Bereichen.

Herr Gottschild, aus Ihren Worten klingt das deutlich heraus: Jetzt ist die heiße Phase für TLVS. Wagen Sie die Prognose: Wie schätzen sie die Chancen für TLVS ein?

Gottschild: Ein System wie TLVS ist im Sinne von Sicherheit und Verteidigung ohne Zweifel notwendig und diese Notwendigkeit ist den Experten in Deutschland, Europa und NATO wohl bewusst. Darüber hinaus setzt TLVS wichtige Impulse für Wachstum und Innovation in Deutschland. Deshalb: Ja, ich bin zuversichtlich, dass TLVS eingeführt wird.

SZ

Das Gespräch führte

Mathias Petry