Pfaffenhofen
Schießen für die Liebe

Seit sieben Jahrzehnten ist die Familie von Oswald Baumgärtner mit ihren Luftgewehren auf dem Volksfest

11.09.2020 | Stand 25.10.2023, 10:34 Uhr
Im Schießwagen von Oswald Baumgärtner, der "Jagdhütte", ist die Zeit stehen geblieben. −Foto: Herchenbach

Pfaffenhofen - Es gibt profanere Geschäftsmodelle: Kfz-Mechaniker leben von kaputten Autos, Wirte vom Durst ihrer Gäste, Rechtsanwälte vom Zoff der Mandanten. Oswald Baumgärtner verdient sein Geld mit der Liebe und dem schlechten Gewissen seiner Kunden. Seit 70 Jahren baut seine Familie ihren Schießstand auf dem Pfaffenhofener Volksfest auf.

Es ist mittags um eins, die Besucher auf dem Volksfestplatz lassen sich an zwei Händen abzählen. Baumgärtner sitzt in seinem Schießwagen auf einem Hocker und grübelt mit einem Kugelschreiber über dem Kreuzworträtsel einer Apotheken-Zeitschrift. "Die Bravo für Rentner", lacht der 68-Jährige. "Wenn meine Eltern mich so gesehen hätten, die hätten mir das Heft um die Ohren gehauen. Weil das wenig einladend wirkt." Vielmehr steht man aufrecht, in der Hand das Luftgewehr, und schaut erwartungsfroh nach potenziellen Schützen aus.

Baumgärtner ist ein fröhlicher Mensch, und heute hat er besonders gute Laune: "Ich bin der Stadt sehr dankbar, dass ich hier sein darf, nach einem dreiviertel Jahr Pause." Wäre ja auch ein Jammer gewesen, wenn die sieben Jahrzehnte lange ununterbrochene Traditionskette 2020 abgerissen wäre. Damals, 1950 wird es wohl gewesen sein, glaubt Baumgärtner, hatten seine Eltern erstmals ihre Schießbude und die "Spinne", ein Kinderkarussell, in Pfaffenhofen aufgebaut. Sie wohnten in München und bereisten die Volksfeste und Jahrmärkte bis hoch nach Nördlingen, Lichtenfels, Coburg und Kronach.

Zwei Jahre später, 1952, war auch der kleine Oswald dabei. Geboren wurde er in Augsburg, wie seine Eltern wohnt er in München, in der Nähe der Theresienwiese. 1959 wurde er in Pfaffenhofen eingeschult. Es war September, und die Eltern waren zu dem Zeitpunkt mit ihren Wagen auf dem Volksfest. "Da drüben", sagt Baumgärtner und zeigt Richtung Innenstadt, "gleich hinterm Rathaus war die Schule." An den Namen Lutz-Schule kann er sich nicht erinnern, deutlich aber an den ersten Schultag. Der Fotograf hatte vor der Schule fürs Klassenfoto seine Kamera aufgebaut, alle Kinder standen schon auf den Treppenstufen mit den Schultüten in der Hand, nur Oswald hat seine oben im Klassenzimmer vergessen. "Eine Riesen-Aufregung", schmunzelt Baumgärtner, "der Klassenraum war abgeschlossen, und meine Eltern rannten durch Schulhaus und suchten den Hausmeister." Irgendwann hat's dann noch geklappt mit dem Foto.

"Ist das nicht schön", sagt Baumgärtner, "je älter man wird, um so mehr vergisst man die schlechten Erlebnisse und behält die Guten." Zum Beispiel die Erinnerung an seine Pfaffenhofener Klassenkameraden, die er allerdings nur einmal im Jahr zur Volksfestzeit traf, denn davor und danach ging ja dort zur Schule, wo seine Eltern gerade mir Karussell und Schießbude unterwegs waren. "Bei meinen Schulkameraden war ich der König", erinnert sich der 68-Jährige. "Die durften kostenlos Karussell fahren." Einer von denen hat ihn jetzt auf dem Volksfestplatz wiedererkannt: "Mei, du lebst ja immer noch." Komplimente klingen anders, aber Baumgärtner fand's lustig.

In Pfaffenhofen hat er viele Stammkunden, und das seit Jahrzehnten. Denn als die Schulzeit zu Ende ging und sich die Frage stellte, welchen Beruf denn der Oswald lernen soll, entschied der Vater: Bua, ich brauch dich. Der Bub zog mit, beantragte 1978 den Gewerbeschein und hat, als der Vater starb, die Bude durch einen Wagen ersetzt. Der ist in sechs Stunden betriebsbereit, "zum Aufbau der Schießbude brauchte man zwei Tage", erinnert sich Baumgärtner.

In seinem Schießwagen, der "Jagdhütte", ist die Zeit stehen geblieben. Auf den ersten Blick hat sich in den Jahrzehnten nichts verändert. Das Rad der Zeit ist sogar zurückgedreht worden: Die Plastikblumen in den weißen Röhrchen sind vor fünf Jahren aus Umweltschutz-Gründen durch Papierblüten mit Glitzerrand ersetzt worden - so wie man sie schon vor 60 Jahren schießen konnte. Dafür sind die Tonröhrchen jetzt aus recycelbarem Plastik. Die Luftgewehre sind nicht ganz so alt, "40 Jahre vielleicht", meint Baumgärtner. Er bringt sie hin und wieder zum Büchsenmacher und lässt sie auch justieren. Ein Quatsch zu glauben, dass diese Gewehre absichtlich so eingestellt sind, damit man nicht trifft. "Das merkt doch jeder", sagt Baumgärtner.

Er hat die Erfahrung gemacht, dass die Schießkünste der jungen Leute heute deutlich besser sind als früher. Es sei schon vorgekommen, dass jemand 50 Schuss gekauft hat und jedes Mal die vorbeifahrenden Blechhasen traf.

So viel Geld für 50 Schuss (30 kosten 20 Euro), um dann mit einem Plüschteddy nach Hause zu gehen, investieren nur wenige. Die meisten jungen Burschen, weiß Baumgärtner, schießen ihrer Liebsten eine Blume und handeln sich dafür einen Kuss ein. Und dann gibt's auch Männer, die mit einer Kunstrose ihre daheim gebliebene Frau besänftigen wollen, weil's im Bierzelt später geworden ist. Diese Kundschaft mit schlechtem Gewissen (siehe oben) fehlt jetzt: Es gibt kein Bierzelt, und abends um acht ist auf dem Volksfestplatz Feierabend.

Fühlt er sich nicht manchmal ein wenig einsam, wochenlang weg von daheim? "Wieso?", fragt der 68-Jährige. "Meine Frau ist doch hier." Neben seiner "Jagdhütte" steht "Baumgärtners Mandelbrennerei", die seine Frau betreut. Das Paar hat einen Sohn. Dem hat der Vater nicht gesagt, "Bua, ich brauch dich". "Mir war's wichtig, dass er einen ordentlichen Beruf erlernt. Er ist Hufschmied geworden." Und trotzdem ist er in die Fußstapfen der Eltern getreten: Er ist mit einer mobilen Werkstatt in Bayern unterwegs. Ob er mal den Schießwagen übernimmt, ist fraglich. "Aber sein Sohn", sagt Baumgärtner, "mein Enkel, der ist zwar erst vier Jahre alt, aber der hat Lust drauf. So wie der strahlt, wenn er mich hier mal besucht."

PK

Albert Herchenbach