Pfaffenhofen
Ein Blick zurück ins Jahr 1893

Die erste Lesung der Paradiesspiele spürt dem Geburtsjahr von Joseph Maria Lutz nach

10.06.2018 | Stand 25.10.2023, 10:26 Uhr
Gelungene Eröffnungsrevue: Bei ihrer Lesung ließen Lorenz Kettner (von rechts) und Steffen Kopetzky sowie Andreas Sauer das Jahr 1893 wieder lebendig werden. −Foto: Foto: Herchenbach

Pfaffenhofen (PK) Mit einem neugierigen Blick 125 Jahre zurück in das Geburtsjahr des Volksdichters und Pfaffenhofener Ehrenbürgers Joseph Maria Lutz ist das Kulturprogramm der zweiten Paradiesspiele eingeläutet worden.

Gut 200 Besucher - selbst freie Stehplätze waren rar - verfolgten die bemerkenswerte Lesung im Festsaal des Rathauses. Kulturreferent Steffen Kopetzky, Stadtarchivar Andreas Sauer und der langjährige Kopf der Gruppe "Lesezeichen", Lorenz Kettner, nahmen das Lutz'sche Theaterstück "Der Brandner Kaspar schaut ins Paradies" zum Anlass nachzuforschen, wie paradiesisch denn die Zeiten waren. Konkret das Jahr 1893, in dem Lutz am 5. Mai als Neugeborenes zum ersten Mal in den weißblauen Himmel über Pfaffenhofen blinzelte. Ihre Texte wurden begleitet von den Dellnhauser Musikanten um Michael Eberwein und passenderweise vom Eberwein-Dreigesang: Josef Eberwein, Volksmusiker aus der Hallertau und Zeitgenosse von Lutz, den er um neun Jahre überlebte, hatte zahlreiche Gedichte des Schriftstellers vertont.

"Schließen Sie die Augen", ermunterte Pfaffenhofens Zweiter Bürgermeister Albert Gürtner in seiner Ansprache die Gäste, "und stellen Sie sich das Paradies vor." Die Dellnhauser gaben gleich zu Beginn mit dem "Hopfenfexer Schottisch" Fantasiehilfe: Dieser flotte Paartanz im Polkatakt entführt aufs Tanzparkett und ging auch jenen in die Beine, die das Glück hatten, im Saal einen Sitzplatz ergattert zu haben.

Die Frage, wie paradiesisch die Zeit vor 125 Jahren war, kann zusammenfassend mit einem entschiedenen "Mal so, mal so" beantworten werden. Auf jeden Fall wirken manche Weichenstellungen, Entscheidungen und Erfindungen bis heute nach, wie man, so Kopetzky, täglich in der Zeitung lesen könne. So zogen vor 125 Jahren die Engländer als Kolonialmacht in Britisch-Indien die Durand-Linie als Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan. Damit legten sie den Grundstein für die Konflikte zwischen diesen beiden Ländern. Zur gleichen Zeit gab sich Deutschland in seiner Kolonie Togo alle Mühe, die Westafrikaner zu germanisieren. Kettner ließ zum Beweis Kopien aus einem damaligen Bilderbuch im Publikum verteilen. Da heißt es: "Seht die deutschen Landeskinder aus dem fernen Klein-Popo. Kennt sie gleich an ihrer Hose: Nur ein Deutscher flickt sie so."

Auch ein Motor macht fast täglich Schlagzeilen: 1893 setzte Rudolf Diesel erstmals seinen Selbstzünder erfolgreich in Gang. Der Orientexpress, den die Betreiber mit dem Slogan bewarben "Wir machen einen Zug, mit dem man nicht umsteigen muss", baute seine Strecke bis Konstantinopel aus. Und ebenfalls vor 125 Jahren meldete der Amerikaner Whitcomb Judson seine Erfindung zum Patent an: den Reißverschluss.

Es war eine technikbegeisterte Zeit. Darauf verwies der Historiker Andreas Sauer, der im Stadtarchiv einen Text über Pfaffenhofens Elektrifizierung herausgesucht hatte. Titel: "Vereine bringen den Strom in die Stadt." Die nämlich hätte "noch nicht den Mut gehabt, die Elektrifizierung vorauszutreiben. Mehrere Vereine jedoch sorgen mit Illuminierungen ihrer Faschingsbälle für noch nie dagewesene Eindrücke in der Bevölkerung." Den Amberger-Kellersaal tauchten sie mit Bogen- und 80 Glühlampen "in ein buntes Farbenmeer". Den Strom lieferten dampfbetriebene "Lokomobile". Da wollten auch die Pfaffenhofener "Velozipedisten" mit ihrem Radlerball nicht nachstehen. Sie ließen unter dem Jubel der Bevölkerung eine "Dynamomaschine" in ihr Vereinslokal im Müllerbräu transportieren. Passend dazu trug Lorenz Kettner das Liebessonett eine Elektrotechnikers vor, das in die flehentliche Bitte mündet: "Lass mich den Leitungsdraht zu deiner Liebe finden." Scheint nicht viel geholfen zu haben, denn die Antwort darauf lieferte der Eberwein-Dreigesang mit dem Stück "Bauernmädel lacht".

Die Zeit, in der Lutz geboren wurde, war aber auch von einer Wirtschaftskrise und von Handelskriegen geprägt. Spekulanten und Makler, die große Anwesen zerschlugen, hatten Hochkonjunktur. Am Hauptplatz betrieb die Kaufmannswitwe Anna Kopf eine halbseidene Privatbank ähnlich der berühmten Betrügerin Adele Spitzeder. Sie versprach exorbitante Zinsen, gab das Geld aber selbst aus. Als ihr Schneeballsystem aufflog, waren die Anleger teils um fünfstellige Beträge gebracht - in Euro umgerechnet ging der Schaden in die Hunderttausende. Da wurde mancher in den Ruin getrieben.

Florierende Geschäfte machten auch die Hopfenbauern. Sie gründeten 1893 einen Hopfenbauverein für "Pfaffenhofen bei Wolnzach", um den einheimischen Hopfen vor Preisdrückerei durch die Konsumenten zu schützen. Zur Erntezeit muss die Stadt überrannt worden sein von Wanderarbeitern. Kettner zitierte die Klage eines damaligen Pfarrers. Scharen von Menschen "aus aller Herren Länder, aus Böhmen, Preußen und Sachsen", ein "internationales Publikum", sei mit Handwagen angereist und würde ein gar "liederliches Leben" führen wollen, "wozu sich hier die Gelegenheit bietet". Schande! Aber Unschuldslämmer waren auch die Einheimischen nicht. Daran lässt auch Lutz in seinem Werk keinen Zweifel.

Albert Herchenbach