Der Mörder unter uns

Die "Bestie in Menschengestalt"

08.11.2018 | Stand 23.09.2023, 4:54 Uhr
Im KZ Dachau - hier das Tor mit der zynischen Inschrift "Arbeit macht frei" - galt Wolfgang Seuß aus Ilmmünster als der gefürchtetste SS-Mann im Lager. Er lebte von 1970 bis zu seinem Tod 1979 in Pfaffenhofen. −Foto: Hoppe/dpa

Dachauer KZ-Häfltinge nannten ihn "Bestie in Menschengestalt": Der zweimal zum Tode verurteilte und später begnadigte Kriegsverbrecher und SS-Mann Wolfgang Seuß verbrachte seinen Lebensabend als unbescholtener Bürger in Pfaffenhofen. War er ein brutaler Judenmörder oder doch nur "Opfer eines Justizirrtums"? Eine Spurensuche.

Auf dem Friedhof von Pfaffenhofen liegt ein Mann, um dessen Leben hohe geistliche und weltliche Würdenträger kämpften: Konrad Adenauer, der Kölner Kardinal Frings, führende Vertreter des Vatikans und des Roten Kreuzes. Trotz seiner blutigen SS-Vergangenheit. In Frankreich war Wolfgang Seuß wegen Gräueltaten als KZ-Aufseher zum Tode verurteilt worden. Unmittelbar vor der Hinrichtung durch die Guillotine hat ihn Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle am 15. Januar 1959 begnadigt. Seinem Bruder Josef war weniger Glück beschieden: Im ersten "Dachau-Prozess" von amerikanischen Militärrichtern zum Tode verurteilt, wurde er am 28. Mai 1946 zusammen mit 13 anderen Todeskandidaten gehängt.

Die Brüder Wolfgang und Josef Seuß stammten aus Ilmmünster und waren fanatische SS-Männer. In den Konzentrationslagern von Dachau, Radolfzell und Natzweiler-Struthof waren sie gefürchtet. Nach dokumentierten Aussagen ehemaliger Häftlinge waren sie brutale Schläger, die Freude am Quälen und Töten hatten. In vielen Publikationen - auch ausländischen - über die NS-Diktatur finden sie reichlich Erwähnung.In seiner späteren Heimatstadt Pfaffenhofen hingegen verbrachte Wolfgang Seuß seinen Lebensabend als unbescholtener Bürger.

Irrationaler Judenhass war wohl die Triebkraft des Handelns von Wolfgang Seuß. Christopher Dillon, ein englischer Historiker, sagt über ihn: "Er war bösartig und gewalttätig. Sein Antisemitismus war glühend, selbst wenn man die üblichen Maßstäbe der Dachauer SS anlegt." Ein Häftling bezeichnete ihn gar als "Bestie in Menschengestalt". Er sei "Sadist übelster Sorte" und der gefürchtetste SS-Mann im ganzen Lager gewesen. Jüdische Gefangene soll er, oft dabei unterstützt von seinem ebenfalls aus Pfaffenhofen stammenden Freund Anton Thumann, besonders gequält haben. Beiden werden in alten Gerichtsakten unvorstellbare Gräueltaten zur Last gelegt. Juden zu quälen und zu töten ist ihm laut Zeugenaussagen "ein besonderes Bedürfnis" gewesen. "Er misshandelte sie, wo er sie nur traf", heißt es in einer Aussage. " Viele Aussagen ehemaliger Dachauer KZ-Häftlinge bestätigen folgende "Spezialmethode": Im Gelände habe Seuß die Juden auf dem Bauch stundenlang durch schmutzige Pfützen robben lassen, selbst Halbtote habe er noch getreten, andere Erschöpfte am tief gefrorenen Boden liegen lassen, so dass manche an Lungenentzündung starben. Manchmal soll Seuß Juden mit siedend heißem Wasser abgebraust und verbrüht oder in die Wunden der Geschlagenen Salzwasser gegeben haben. Er habe sich darum gerissen, Erschießungen und Erhängungen durchzuführen. Er leitete demnach oft die Exekution russischer Kriegsgefangener am Schießplatz von Hebertshausen. "Größte Freude" habe er daran gehabt. Und es gibt Dutzende solcher Fälle von Folter und Mord, die dem Ilmmünsterer angelastet werden. Ein Zeuge sagte, Seuß sei ohne Zweifel einer der "hinterhältigsten Mordbuben" Dachaus gewesen, der sich über das Blut der Häftlinge zum Schutzhaftlagerführer empor gearbeitet habe.

Es gibt aber auch Widersprüche: Ehemalige Häftlinge beschuldigten ihn, zwei namentlich genannte Juden in Dachau ermordet zu haben. Diese kamen aber nachweislich im KZ Buchenwald ums Leben. Auch erklärten später ehemalige Gefangene, Wolfgang Seuß habe sich bei Misshandlungen "nicht sonderlich" hervor getan. Andere SS-Männer seien weit schlimmer gewesen.

Auch einige Pfaffenhofener nahmen ihn in Schutz: Polizeihauptkommissar Höchtl schrieb 1972 an die Münchner Staatsanwaltschaft, die Pfaffenhofener sähen Wolfgang Seuß als "ruhigen, hilfsbereiten gewissenhaften und anständigen Menschen". Und Bürgermeister Samwald schrieb im gleichen Jahr an das Landgericht: "Nachteiliges über Herrn Seuß ist nicht bekannt geworden." Auch der französische Gefängnispfarrer, der ihn in der Todeszelle betreute, meinte, Seuß sei in seiner Haltung ein "Vorbild" für die anderen Todeskandidaten gewesen.

Wer ist dieser widersprüchliche Mann? Wolfgang Seuß wurde 1907 in Nürnberg geboren. Bald darauf zog die Familie nach Ilmmünster. Nach der Schule begann er eine Schlosserlehre, arbeitete danach als Bauschlosser. 1929 wurde er arbeitslos. 1933 schloss er sich dem SS-Sturm Pfaffenhofen an. Ein Jahr später trat er in die Pfaffenhofener Ortsgruppe der NSDAP ein. Er meldete sich zur Polizei nach München. Dort gab es keine Stelle für ihn und so wies man ihn der Wachtruppe des neu errichteten Konzentrationslagers Dachau zu. Die Karriere ging schnell voran: Jedes Jahr wurde er befördert. 1939 war er SS-Hauptscharführer. "Fleißaufgaben" förderten den Aufstieg. In so einer "Fleißaufgabe" schrieb Seuß selbst, es sei Sinn und Zweck der Konzentrationslager, das deutsche Volk vor "Schädlingen" zu schützen. Man müsse dort "alles rassistisch Minderwertige und erblich Belastete" vom "Volkskörper" fern halten.

Diese Zeilen schrieb Seuß 1937. In diesem Jahr war er an der Ermordung des jüdischen Fabrikanten Kurt Riesenfeld aus Breslau beteiligt. Dieser galt als feinsinniger Intellektueller und bat im KZ, mit Respekt behandelt zu werden. Er sei schließlich im ersten Weltkrieg deutscher Offizier gewesen und sei Träger des Eisernen Kreuzes. "Du Saujude, dir werde ich es zeigen!" soll Seuß geschrien haben. Er zwang Riesenfeld in einen Förderkasten, der dazu bestimmt war, Mischgut in die Trommel einer Betonmaschine zu befördern. Seuß ließ den Kasten drei Meter in die Höhe ziehen und mit einem gewaltigen Aufschlag auf den Boden zurückschnellen, so die Prozessakten. Über den halb Toten wurde kaltes Wasser gegossen. Riesenfeld erlag tags darauf seinen schweren Verletzungen. Dachauer SS-Leute kommentierten den Mord so: "Zwei Sack Zement, ein Volljude - eine gute Betonmischung."

Zeitlebens bestritt Seuß vehement, an der Ermordung Riesenfelds beteiligt gewesen zu sein. Er sah sich als unschuldiges Opfer. Mindestens fünf ehemalige Dachauer KZ-Gefangene, deren Aussagen akribisch überprüft worden waren, bestätigten vor dem Landgericht Münden II allerdings die Täterschaft von Seuß. Es gab aber auch Aussagen, die andere Täter nannten.

1938 wurde Seuß ins Konzentrationslager Natzweiler-Struthof im Elsass versetzt. Bis kurz vor Kriegsende war er dort Schutzhaftlagerführer. Seuß hat laut Zeugen neu eingetroffene Häftlinge mit folgenden Worten empfangen: "Ihr seid hierher gekommen, um zu verrecken!" Wahllos habe er Häftlinge, die im Rahmen der "Nacht-Nebel-Aktion" nach Natzweiler verschleppt wurden, erschießen lassen. Auch im Elsass sind viele Gräueltaten dokumentiert: Prügel, Auspeitschungen, Exekutionen - den Capo der Lager-Wäscherei soll er schwer misshandelt, eigenhändig erhängt und selbst den Leichnam noch mit Tritten geschändet haben.

Kurz vor Kriegsende versuchte Seuß, sich abzusetzen - er geriet aber in Kriegsgefangenschaft, in der aufkam, dass er in Dachau und Natzweiler als SS-Angehöriger Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen habe. Aus der Untersuchungshaft schrieb er seiner Frau in Pfaffenhofen: "Manchmal wird mir das Leben zur Qual. Ich sage mir dann, was habe ich denn verbrochen, dass ich gar so viel leiden muss. Meine Unschuld wird sich erweisen." 1948 wurde Seuß in ein britisches Internierungslager verlegt. Nun interessierte sich die französische Kommission zur Aufklärung von Kriegsverbrechen für ihn - und er wurde ausgeliefert. 1950 kam er ins Militärgefängnis nach Metz. Wegen seiner Verbrechen in Natzweiler muss er sich dort vor einem Militärgericht verantworten. Im Frühjahr 1954 wurde er zum Tode verurteilt. Seuß legte Berufung ein. Das Urteil wurde aufgehoben und an das Militärgericht in Paris verwiesen. Am 17. Mai 1955 fiel zum zweiten Mal ein Todesurteil. Die Berufung wurde abgelehnt.

So stellte Seuß ein Gnadengesuch an den französischen Staatspräsidenten. Nun begann ein Kampf um sein Leben: Bundeskanzler Adenauer schrieb an den Präsidenten der Republik, man möge Verständnis dafür haben, dass seit Kriegsende zwölf Jahre verstrichen seien. Auch der Heilige Stuhl versuchte, eine Begnadigung zu erreichen. Immer wieder bat auch der Kölner Kardinal Frings um Gnade. Führende Vertreter des Roten Kreuzes setzten sich ebenfalls für Seuß ein. Er war schließlich der letzte zum Tode verurteilte deutsche Gefangene in Frankreich.

Drei Jahre verbrachte er in der Todeszelle. Am 15. Januar 1959, wenige Stunden vor der angesetzten Vollstreckung des Urteils, begnadigte ihn Präsident de Gaulle zu lebenslanger Haft. Seuß kam ins Gefängnis nach Caen. Dort blieb er ein Jahr. 1954 hatte das Landgericht München II gegen den SS-Mann ein Verfahren wegen des Mordes an Kurt Riesenfeld eröffnet. Ein Haftbefehl wurde erlassen. Am 19. Januar 1960 wurde Seuß aus Frankreich abgeschoben. Er wollte sich sofort nach Pfaffenhofen zu Frau und Kindern begeben. An der Grenze bei Saarbrücken wurde er aber festgenommen und nach Stadelheim gebracht - für eine Entlassung setzten sich vergeblich hohe Würdenträger wie der evangelische Kirchenpräsident Stempel und Bundespräsident Theodor Heuß ein.

Im März 1960 begann der Mordprozess gegen Wolfgang Seuß. In der Anklageschrift wird der "Hass auf die Gegner des nationalsozialistischen Regimes und die Freude, sich als Herr über Leib und Leben der Häftlinge aufspielen zu können" als "Triebkraft seines Handelns" bezeichnet. Am 22. Juni fiel das Urteil: Lebenslänglich Zuchthaus wegen Mordes. In der Begründung heißt es, Seuß sei einer der "gefürchtetsten SS-Männer gewesen, der Häftlinge gequält, ausgepeitscht und in brutaler Weise grundlos misshandelt" habe. Den Mord an Riesenfeld habe er aus "gefühlloser unbarmherziger Gesinnung" begangen. Eine Revision wurde "als unbegründet" verworfen.

Im November 1960 aber legte der ehemalige politische Häftling Nikolaus Muth, der als Kommunist von 1934 bis 1945 in Dachau gefangen war, eine eidesstattliche Erklärung ab: Er wisse genau, dass Seuß nicht der Mörder Riesenfelds war. Der "kriminelle" Capo Störzer habe diesen auf Befehl des SS-Mannes Spatzenegger umgebracht. Beide waren zu diesem Zeitpunkt schon tot: Störzer war in Mauthausen von einem Mithäftling ermordet und Spatzenegger in Landsberg als Kriegsverbrecher hingerichtet worden.

Der Rechtsanwalt von Seuß beantragte die Wiederaufnahme des Verfahrens. Inzwischen hatte das Landgericht aber zwei weitere Zeugen ausfindig gemacht, die erklärten, Seuß sei an der Betonmaschine gestanden, als Kurt Riesenfeld ermordet wurde. Und so lehnte das Landgericht den Antrag ab: Das angestrengte Wiederaufnahmeverfahren habe "keinen Zweifel über die Täterschaft" von Seuß ergeben.

Schon im August 1961 folgte ein erstes Gnadengesuch. "Die grausame Tat, für die ich zu lebenslänglichen Zuchthaus verurteilt wurde, habe ich nicht getan", heißt es in einer Erklärung des Verurteilten. "Ich habe ein völlig reines Gewissen." Durch langjährige Haft sei seine Gesundheit körperlich wie seelisch derart angegriffen, so "dass es an der Zeit ist, mir meine lang entbehrte Freiheit wieder zu schenken, damit ich die Jahre, die mir Gott noch schenkt, für mich, meine Frau und meine Kinder wieder selbst sorgen und aufkommen kann."

Der Oberstaatsanwalt wandte sich "ganz entschieden" gegen eine Begnadigung. Seuß zähle zu den "brutalen KZ-Schergen, die ihre niedrigen Instinkte an unschuldigen und wehrlosen Opfern eines Gewaltregimes hemmungslos austobten". Die Allgemeinheit sei sehr daran interessiert, dass dieser "gemeine Mörder und Menschenschinder" noch "sehr lange" zu sühnen habe. Und so lehnte im Oktober 1961 das bayerische Justizministerium das Gnadengesuch ab. Viele weitere Gnadengesuche folgten. Die Rede war von einem "Justizirrtum". Fürsprecher waren unter anderem der Münchner Weihbischof Johann Neuhäusler, der selbst Gefangener im KZ Dachau war, und der französische Domherr Jean Genvo.

Erst bei einem erneuten Gnadengesuch 1970 setzte Justizminister Held die Strafe gegen den Willen des Oberstaatswalts zur Bewährung aus. Seuß kehrte nach fast 25 Jahren in Haft heim zu seiner Frau in Pfaffenhofen. Zwei Jahre arbeitet er als Hilfsarbeiter in einer Fabrik, ehe er die Tätigkeit wohl aus gesundheitlichen Gründen aufgab.

Wie sahen die Nachbarn Wolfgang Seuß? "Er wirkte stets niedergeschlagen. Man merkte, dass ihn etwas drückte", meinte einer, der sich noch gut an ihn erinnerte. "Er war verdruckt, konnte keinem in die Augen sehen", erzählt eine andere ehemalige Nachbarin. "Irgendwie hatten wir Angst vor ihm." Man sei ihm lieber aus dem Weg gegangen. "Wir wussten, was er verbrochen hat." Polizeihauptkommissar Höchtl und Polizeimeister Hagl betonten in ihrem Schreiben an das Landgericht hingegen die "Hilfsbereitschaft", die "Gewissenhaftigkeit" und den "Anstand" von Seuß. Zumindest würde man ihn in Pfaffenhofen so sehen.

Am 25. Januar 1977 wurde ihm schließlich die Reststrafe erlassen. Wolfgang Seuß starb am 27. August 1979. Heute ist sein Wohnhaus in einem Gässchen am Rande der Altstadt längst abgerissen.

Reinhard Haiplik