Welt am Wendepunkt

Großer Jubel für Ingrid Cannonier als „Königin Lear“: Anne Mulleners zeigt Lanoyes Shakespeare-Überschreibung

05.02.2023 | Stand 17.09.2023, 3:48 Uhr

Aufstellung zum royalen Familienfoto: Sascha Römisch, Matthias Gärtner, Sebastian Kremkow, Péter Polgár, Ingrid Cannonier, Andrea Frohn, Konstantin Marsch und Judith Nebel (von links) bilden ein starkes Ensemble. Foto: Jochen Klenk

Von Anja Witzke

Ingolstadt – Da stehen sie: Aufgereiht zum royalen Familienfoto. Die Monarchin. Ihre Söhne. Deren Frauen. Der Hofstaat. Stimmen „God Save the Queen“ an. Doch der Thron, von dem aus Königin Lear herrscht, besteht nur aus gestapelten, weißen Plastikstühlen. Und: Er wackelt. Ein Sturm zieht auf – und wird am Ende alles mit sich reißen. Ins Verderben. In den Wahnsinn. In den Tod.

Archaische Wucht hatte schon Tom Lanoyes legendärer „Schlachten“-Theatermarathon ausgezeichnet. In der Folge hat sich der flämische Autor immer wieder an Klassiker-Übertragungen gewagt. Auch „König Lear“, die grausamste aller Shakespeare-Tragödien, uraufgeführt 1606, hat er ins 21. Jahrhundert geholt, und dabei die Geschlechter der Hauptfiguren vertauscht. Aus König wird Königin, aus den drei Töchtern werden drei Söhne, die wie im Original gleich zu Beginn dazu gedrängt werden, Qualität und Quantität ihrer Liebe zur Mutter in Worte zu fassen.

Denn Elisabeth Lear, hier Chefin eines global agierenden Großkonzerns, will sich zurückziehen und das Imperium unter den Söhnen aufteilen. Wer sie am meisten liebt, soll auch das größte Stück vom Kuchen bekommen. Während Gregory und Hendrik, angestachelt von ihren Ehefrauen, mit dem Lobhudeln beginnen, verweigert sich Cornald, der Jüngste – und wird davongejagt. Doch schon bald stellt sich heraus, dass sich der in Teile zerschlagene Familienkonzern auf dem stürmischen Finanzmarkt nicht halten kann. Die neuen Chefs erweisen sich als unfähig, gefälschte Bilanzen werden aufgedeckt, und Lears Demenz und ihr unkalkulierbares Verhalten schüren die innenfamiliären Konflikte zusätzlich an. Die Katastrophe ist nicht mehr aufzuhalten.

Exzellent ist Tom Lanoye diese Überschreibung gelungen. Er hat das Figurenpersonal verdichtet und die Themen erweitert. Die Krisen sind vielfältig, kompliziert und global, betreffen Finanz- und Wirtschaftssysteme, Erschöpfung der Ressourcen, Klimawandel, digitale Transformation. All das passiert gleichzeitig, in einem irrwitzigen Tempo, sorgt für private, gesellschaftliche, politische Instabilität und radikale Veränderungen überall und in allen Lebensbereichen. Trotz der Modernisierung hat Lanoye die Sprache im Versmaß belassen. Das schafft Distanz und Spannung zugleich. Regisseurin Anne Mulleners hat „Königin Lear“ im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt fulminant in Szene gesetzt. Bei der Premiere am Samstagabend wurde vor allem Ingrid Cannonier in der Titelrolle frenetisch gefeiert.

Sie bildet das Zentrum: Herrisch und herrschsüchtig ist diese Königin. Eine gefürchtete Tyrannin. Eine Furie. Unbarmherzig. Manipulativ. Gnadenlos. Als Mutter. Und als Geschäftsfrau. Doch mehr und mehr beginnt die Demenz ihre Persönlichkeit auszulöschen. Sie wird zur Getriebenen. Wie Ingrid Cannonier diese Wesensveränderung spielt, zwischen Angst und Aggression irrlichtert, den Wahnsinn aus Leere, Licht, Dunkel begreifbar macht – das ist grandios. Klug mixt Regisseurin Mulleners dazu Lanoyes Text mit dem originalen von Shakespeare. Und gerade diese Sprachverwirrung aus Englisch und Deutsch erzählt viel vom Chaos in Lears Kopf.

Überhaupt gibt das Ensemble in seiner Geschlossenheit ein starkes Bild ab. Matthias Gärtner spielt Gregory beschränkt und mit geringer Impulskontrolle, während Judith Nebel als seine Frau Connie raffiniert die Strippen zieht. Ebenso interessant gestalten Sebastian Kremkow und Andrea Frohn das Paar Hendrik und Alma – clever, aber auf andere Art gebrochen. Konstantin Marsch mimt den wahrhaftigen Sohn, den Zweifler, den Rebellen, der am Ende mit seinem Leben bezahlen muss. Sascha Römischs Kent bleibt loyal bis zuletzt – aber immer ein wenig undurchschaubar. Und Péter Polgár ist als Pfleger Oleg einer von Shakespeares Narren. Wenn er die Tablettenschachtel schüttelt und „Madamchen“ säuselt, dann weiß man nicht, ob man über ihn lachen oder ihn fürchten soll. Auf nahezu leerer Bühne kämpfen sie alle um ihr Leben. Und Regisseurin Mulleners findet dafür sprechende, energiegeladene Bilder. Jan Hendrik Neidert und Lorena Díaz Stephens haben die Schaltzentrale der Macht als schlichte Guckkastenbühne ins Kleine Haus gebaut. Lamellenwände sind nicht nur multifunktional, schaffen neue Räume und Projektionsflächen für Schattenspiel, sondern betonen die Fragilität und Durchlässigkeit der Situation. Auf dem PVC-Boden in Marmoroptik ein einzelner weißer Plastikstuhl. Endzeitstimmung im Wolkenschloss.

Absolute Hingucker sind die Kostüme in strenger Schwarz-Grau-Beige-Farbästhetik, bei denen man sich von den üppigen Materialien, Silhouetten, Maheutres der elisabethanischen Zeit inspirieren ließ. Nur gibt es hier Kapuzen statt hoher Krägen, gesteppte Mäntel und sportliche Boots mit robuster Laufsohle. Artifiziell ist dieser Look. Für die Figuren Panzer und Gefängnis zugleich.

Der Sturm, den Sounddesigner Aki Traar im Kleinen Haus wüten lässt, hat eine große zerstörerische Kraft. Am Ende ist fast alles verloren. Aber keiner hat etwas daraus gelernt. „Königin Lear“ erzählt von einer Welt am Wendepunkt. Und wir sind mitten drin. Langer Beifall.

DK




ZUR PRODUKTION

Theater:

Großes Haus,

Stadttheater Ingolstadt

Regie:

Anne Mulleners
Ausstattung:
Jan Hendrik Neidert

Lorena Díaz Stephens
Sounddesign:
Aki Traar

Vorstellungen:

bis 29. März

Kartentelefon:

(0841) 30547200