Ingolstadt
Tag gegen Gewalt an Frauen: Frauenhaus-Bewohnerin erzählt ihre Leidensgeschichte

„Ich brauchte eine riesengroße Portion Mut“

25.11.2022 | Stand 19.09.2023, 3:36 Uhr

Immer wieder erzählen Bewohnerinnen des Caritas-Frauenhauses Beraterin und Leiterin Andrea Schlicht ihre Schicksale. Eine Frau hat es jetzt für die Öffentlichkeit getan. Foto: Lautner, Caritas-Frauenhaus

„Die Hemmschwelle, im Frauenhaus anzurufen, war unglaublich hoch. Ich brauchte viel Zeit und eine riesengroße Portion Mut, bis ich es endlich wagte“. Anna, die in Wirklichkeit anders heißt, betont, wie unglaublich erleichtert sie war, als die Dame am Telefon ihr einfühlsam Hilfe anbot. Anna ist eine Bewohnerin des Caritas-Frauenhauses in Ingolstadt. Sie erzählte Frauenhaus-Leiterin Andrea Schlicht ihre Leidensgeschichte für die Öffentlichkeit, anlässlich des Internationalen Tages zur Beseitigung der Gewalt an Frauen am 25. November.

Für diesen Tag hat die Gleichstellungsstelle der Stadt Ingolstadt eine Veranstaltung „Orange Day“ organisiert, an der das Frauenhaus mitwirkt. Eröffnung ist um 13 Uhr auf dem Rathausplatz. Die Farbe Orange symbolisiert dabei eine Zukunft ohne Gewalt gegen Frauen.

Nach elf Jahren zeigte er sein wahres Gesicht

„Elf Jahre führte ich eine Wochenendbeziehung mit meinem damaligen Partner.“ Nach dieser langen Zeit entschloss sich Anna, zu ihm zu ziehen. Schon bald wurde das Verhältnis immer schwieriger. Er zeigte erst jetzt sein wahres Gesicht. Ihr Partner ließ keine andere Meinung zu, und Anna durfte niemals mitreden. „Verstieß ich gegen diese Vorschriften, rastete er total aus: Er warf Essen und Teller auf den Boden, beleidigte und bedrohte mich massiv mit Worten.“ Nach außen behauptete er das genaue Gegenteil des Vorgefallenen: Er selbst sei das Opfer. Anna wusste manchmal selbst nicht mehr, ob das Erlebte wahr oder falsch war. „Selbst ein harmloser Hinweis, zum Beispiel die Mikrowelle nicht zu lange einzuschalten, veranlasste ihn, den Müll im Haus zu verteilen, die Ärmel des Pullovers abzuschneiden oder Wasser ins Bett zu gießen.“

Sein Arbeiten im Homeoffice machte ihr Zusammenleben noch unerträglicher. Dennoch klammerte sie sich an die Hoffnung auf Besserung und suchte die Schuld bei sich. „Ich wurde immer stiller, um ihm keinen Anlass für einen weiteren Wutanfall zu geben. Die Angst war mein permanenter Begleiter.“ Ihre psychische Verfassung wurde zunehmend schlechter. Anna konnte nicht mehr einschlafen, sie konnte kaum aufstehen, fühlte sich immer mehr wie in einem Loch und war verzweifelt.

Ihre Hausärztin vermittelte ihr letztendlich einen Platz in einer Reha-Einrichtung. Dort erlitt Anna einen schweren Nervenzusammenbruch. „Die Ärzte konnten mir nur bis zu einem gewissen Grad helfen, denn ständig stand die Rückkehr zu meinem Peiniger wie ein Drohgespenst in meinen Gedanken.“ Durch einen Flyer erkannte Anna: Sie war Opfer von häuslicher Gewalt, und es gab die Möglichkeit, bei einem Frauenhaus um Hilfe zu bitten. Nachdem sie ihre Hemmschwelle überwunden hatte, war sie unendlich erleichtert, dass sie professionelle Hilfe bekommen würde. „Der Anruf war die beste Entscheidung meines Lebens“, sagt sie rückblickend. Durch die Unterstützung im Frauenhaus geht es ihr heute deutlich besser. Sie hat jetzt sogar eine eigene Wohnung in Aussicht. Mit der Tatsache, dass sie weiterhin von ihrem Ex-Partner verleumdet wird, hat sie sich abgefunden.

Anna will mit ihrer Geschichte zum Orange Day beitragen und Betroffenen Mut machen. „Ich rate allen Frauen, denen es ähnlich ergeht wie mir, sich frühzeitig um Hilfe zu bemühen. Das Frauenhaus mit seinem umfassenden Beratungs- und Unterstützungsangebot durch seine netten Mitarbeiterinnen ist eine tolle Anlaufstelle.“

Auch psychische Gewalt zeichnet Betroffene schwer

Annas Beispiel zeigt: Häusliche Gewalt beinhaltet auch psychische Gewalt. „Formen sind unter anderem wiederholte Herabwertungen, Drohungen, Kontrolle, Isolation, Verängstigung, Gaslighting, also gezielte Desorientierung, oder Stalking. Oft werden verschiedene Formen der psychischen Gewalt von der Tatperson gleichzeitig angewendet mit dem Ziel, die Betroffenen auszulaugen“, erklärt Andrea Schlicht. Psychische Gewalt sei nicht „schlimmer“ oder „weniger schlimm“ als körperliche Gewalt. Beide Formen von Gewalt könnten die Betroffenen schwer und dauerhaft zeichnen. „Nach Jahren psychischer Manipulation sind Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit häufig stark geschwächt. Die Betroffenen fühlen sich kraftlos und unsicher und sind damit der Tatperson noch mehr ausgeliefert. Ihnen ist oft nicht bewusst, dass es sich hierbei um Gewalt handelt.“

DK