stadtgeflüster
Muskelkraft gegen Newtonmeter

23.04.2019 | Stand 02.12.2020, 14:08 Uhr

(kue) Getreu dem ungeschriebenen Gesetz der deutschen Reifenhandels-Lobby sind von Oktober bis Ostern Winterreifen Pflicht.

Den Rest des Jahres darf der Autofahrer auf Sommerpneus unterwegs sein. Da Ostern aber immer ganz überraschend kommt - gäbe es keine Kalender, hätte man heuer für die Festlegung des Termins neben dem Astronomiestudium auch noch eines in Theologie gebraucht - bildeten sich in den Tagen vor dem Osterwochenende vor den Werkstätten der Auto- und Reifenhändler lange Warteschlangen.
Memmen allesamt, Warmduscher, Weicheier! Recht geschieht es ihnen! Wir echten Männer wechseln die Reifen natürlich selbst. Denn wo sonst kann sich der moderne Mann noch beweisen, seit Säbelzahntiger und Mammut ausgestorben sind, wenn nicht im Kampf gegen festgerostete Schrauben! Puristen verzichten dabei selbstredend auch auf druckluftbetriebene Schlagschrauber, wie sie heute schon jeder Baumarkt im Sortiment hat. Hier zählt nur Mann gegen Maschine, Muskelkraft gegen Newtonmeter, Radkreuz gegen Rostfraß.

Also los: Wagenheber in Stellung gebracht, Radkreuz angesetzt und - nichts tut sich. Also nochmal in die Hände gespuckt, mit beiden Fäusten den Kreuzschlüssel gepackt und mit ganzer Kraft - wieder nichts. Dann eben zuerst eine andere Schraube. Stehen - oder vielmehr sitzen - ja schließlich fünf zur Auswahl. Aber Pardauz: Auch die anderen vier bewegen sich keinen Millimeter. Das Kreuz schmerzt, die Blamage droht - Wut steigt auf: "Welches A. . . hat bloß die Schrauben so fest angezogen! " Bei "Heute im Stadion" auf Bayern 1 läuft schon die Schlusskonferenz - da kommt die rettende Idee: Warum machst du's nicht wie die Fußballer: oben ziehen und unten treten? Also nächster Versuch: statt mit devotem Bückling vor der Stahlfelge diesmal seitlich an den Kotflügel gelehnt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren: Beide Fäuste umfassen das obere Ende des Radkreuzes. Der linke Fuß stemmt sich gegen das untere Ende. Noch ein kurzes Stoßgebet: "Herr gib, dass ich mir nicht die Zähne ausschlage! " Und: wieder nichts. Da hilft nur noch eins - eine Verlängerung. Die hat nun aber nichts mit Fußball zu tun, sondern mit dem Hebelgesetz. Mit krächzendem Quietschen beugt sich Schraube um Schraube der Gewalt.

Stunden später - das Auto steht inzwischen tatsächlich auf vier Sommerreifen - erkundigt sich die Gemahlin nach dem Stand der Dinge: "Du bist schon fertig? " Das ist der Moment, in dem die Kreuzschmerzen und Ärger verfliegen. Und gerade wollen wir ansetzen zu einem ausführlichen Bericht über unseren ruhmreichen Kampf gegen die stählerne Bestie, da kommt der Nachsatz, der jeden Do-it-yourself-Helden ins Mark treffen muss: "Dann kann ich ja jetzt endlich zum Einkaufen fahren, bevor die letzten Geschäfte schließen! "