TikTok statt Straße
Modellprojekt „Digital Streetwork“: Sarah Rieger hilft auf Social-Media-Plattformen

05.09.2022 | Stand 22.09.2023, 6:00 Uhr

Digital Streetwork: Sarah Rieger sucht auf Gaming- und Social Media-Plattformen Kontakt zu Jugendlichen. Oft kommt es dann aber auch zu persönlichen Treffen oder Gesprächen. −Foto: BJR

Beim Projekt „Digital Streetwork“ geht Bayern ganz neue Wege. Um junge Menschen in ihren Lebenswelten abzuholen, sind Streetworker jetzt auch auf Gaming- und Social Media-Plattformen erreichbar.



Eine zeitgemäße Ergänzung der klassischen, aufsuchenden Streetwork, die es beispielsweise in Ingolstadt so gar nicht mehr gibt: Die Stadt vertraut mehr auf Jugendsozialarbeit an Schulen. Umso interessanter ist das neue Modellprojekt womöglich auch für junge Ingolstädter: Im Bezirk Oberbayern sind drei Streetworker im Netz unterwegs. Die Vorteile dieser Arbeitsweise: Die Anonymität der Online-Welt senkt die Hemmschwelle für Kontaktaufnahme und Gespräche. Außerdem funktioniert die digitale Kommunikation unkompliziert und ohne Termine.

Häufig geht es um die psychische Gesundheit

Eine der digitalen Streetworkerinnen im Bezirk Oberbayern ist Sarah Rieger: „Ein Themenspektrum, das in der Beratung und Unterstützung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen recht häufig aufkommt, ist die psychische Gesundheit“, sagt sie gegenüber unserer Zeitung. „Darunter fallen insbesondere Depressionen, Angststörungen bis hin zu selbstverletzendem Verhalten.“

Sarah Rieger kann kaum einschätzen, ob mehr männliche oder weibliche Jugendliche das Angebot wahrnehmen: „Wir arbeiten sehr datensparsam“, sagt die digitale Streetworkerin. „Dadurch wissen wir nicht immer das Geschlecht der Personen, die sich an uns wenden. Ein Teil unserer aufsuchenden Arbeit findet in queeren Foren statt. Dort sind Geschlecht und Identität oft ein Thema. Eine Tendenz lässt sich jedoch trotzdem nicht erkennen.“

Der Start für das Modellprojekt erfolgte während der Pandemie-Kontaktbeschränkungen im September 2021: Als sich öffentliche Orte und Straßen wieder leerten, verlagerte sich der Treffpunkt vieler Jugendlicher noch stärker als zuvor ins Netz. Dieser Entwicklung trug der Bayerische Jugendring (BJR) Rechnung: Das Konzept, junge Menschen von 14 bis 27 Jahren in digitalen Lebenswelten zu erreichen, sei von Anfang an aufgegangen, heißt es.

Aktuell sind 14 Streetworkerinnen und Streetworker, verteilt auf Regierungsbezirke, unter anderem auf Discord, Instagram, Twitch, WhatsApp, TikTok und Reddit präsent. Da jeder persönliche Account ein Profilbild zeigt, ist sofort erkennbar, dass keine Behörde, sondern ein Mensch dahinter steckt. Beratungssuchende haben zudem die Möglichkeit, sich in Chats anonym und kostenlos auszutauschen. Das gilt auch für den Onlinedienst Discord, der Gespräche in geschlossenen digitalen Räumen ermöglicht. Bis heute ist es der meistgenutzte Kanal.

Im Laufe des Projekts kamen nach Auskunft des BJR eine Vielzahl von Kontakten, Beratungsgesprächen und persönlichen Treffen zustande. Im ersten Quartal 2022 waren es rund 2500 Kontakte, von denen rund 1000 junge Menschen intensiver unterstützt und 250 in Einzelfallhilfe betreut wurden. Zudem konnten in 27 Fällen Beratungssuchende schneller und effizienter als bisher zu Hilfseinrichtungen und jugendrelevanten Organisationen weitervermittelt werden, heißt es.

Die Streetworker unterliegen der Schweigepflicht. Von ihnen erfolgt in der Regel der erste Kontakt: Sie sind präsent, manchmal nur, um zu plaudern. Aber sie sprechen auch gezielt an, wenn etwas geäußert wird, das Beratungsbedarf signalisiert. Die Themen sind vielfältig: Oft geht es um die psychische Gesundheit, um Zukunftsängste, soziale Isolation, Fragen der Sexualität, um allgemeine Lebensbewältigung, aber auch um handfeste juristische Fragen.

Nach Corona-Maßnahmen mehr Beratungsbedarf

Vor allem die Corona-Maßnahmen mit Kontaktsperren und monatelangem Distanz-Unterricht an Schulen und Universitäten haben laut BJR zu mehr Beratungsbedarf bei jungen Menschen geführt, die sich oft einsam und niedergeschlagen fühlen. Die digitalen Unterstützer ersetzen keine Fachberatung, begleiten jedoch zu Stellen, die weiterhelfen können.

BJR-Präsident Matthias Fack ist überzeugt, dass das Modellprojekt „einen Sprung in die Zukunft“ darstellt: „Wer die Lebenswelten junger Menschen kennt und akzeptiert, muss mit seinen Hilfsangeboten auch online präsent sein.“

Das Modellprojekt ist ein Baustein des vom Ministerrat beschlossenen Konzepts zur außerschulischen Unterstützung von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie und wird als Bestandteil des Aktionsplans Jugend vom Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales für die Projektlaufzeit bis Ende 2022 mit bis zu 3,5 Millionen Euro gefördert.

− DK