Iris Wolff bei den Literaturtagen
„Kunst ordnet das Chaos“

Die Fleißerpreisträgerin stellt am 2. Mai ihren hochgelobten Roman „Lichtungen“ in Ingolstadt vor

23.04.2024 | Stand 23.04.2024, 19:00 Uhr

Iris Wolff erzählt in ihrem neuen Roman „Lichtungen“ über eine Freundschaft in Zeiten des Umbruchs. 2019 war die Autorin mit dem Ingolstädter Fleißerpreis ausgezeichnet worden. Foto: Goedecke

Mit Kapitel neun beginnt der Roman: „Es war und es war nicht“. Und er endet mit Kapitel eins. Dazwischen liegt die Geschichte von Lev und Kato, die sich im kommunistischen Vielvölkerstaat Rumänien als Kinder anfreunden, aus den Augen verlieren und wiederfinden. „Lichtungen“ heißt der neue Roman von Iris Wolff, den sie im Rahmen der Ingolstädeter Literaturtage am 2. Mai um 20 Uhr im Rudolf-Koller-Saal der VHS vorstellt.

Frau Wolff, man stellt sich häufig die Frage, wie ähnlich sich Autorin und Protagonistin sind und wie viel aus den eigenen Erfahrungen in die Figuren hineingeflossen sind. Aber wie sieht es andersherum aus? Gab es Eigenschaften oder Verhaltensweisen, bei denen Sie mit Ihren Figuren angeeckt sind und die es Ihnen schwieriger gemacht haben, die Geschichte zu erzählen?
Iris Wolff: Die Lyrikerin Wisława Szymborska hat einmal gesagt: „Der Autor muss ein Spion sein bezüglich seiner fiktiven Helden, er muss an der Tür horchen, sie heimlich beobachten, wenn sie allein sind, ihre Briefe öffnen und darüber spekulieren, was sie verschweigen.“ An dieser Sichtweise gefällt mir, dass Figuren wie echte Menschen betrachtet werden. Genau so empfinde ich es auch. Ich lebe lange mit ihnen, versuche ihnen auf die Spur zu kommen, auch wenn sie sich entziehen, widersprüchlich erscheinen und auf ihre Geheimnisse bestehen. Manches weiß auch ich nicht über sie. Manches gefällt mir nicht. Aber ich lasse diese Dunkelstellen so stehen und versuche nicht vorschnell zu urteilen. Wahrscheinlich würde ich ihre Briefe nicht öffnen.

In einem Interview haben Sie verraten, dass das Manuskript lange in der Schublade gelegen ist, weil Sie nicht wollten, dass Ihnen jemand ausredet, die Geschichte rückwärts zu erzählen. Was hat sich an der Denkweise oder vielleicht auch an der Angst geändert, dass wir das Buch nun doch in der Hand halten können?
Wolff: Ich schreibe alle meine Manuskripte zunächst einmal fertig. Dann erst, wenn ich weiß, dass eine Geschichte funktioniert, bin ich bereit für den nächsten Schritt: Sie kritischen Erstleserinnen und Erstlesern geben; das sind Freundinnen und Freude, meine Agentin sowie meine Lektorin. Dieser erste Schritt, eine Geschichte zunächst einmal bei sich zu belassen, ist aus meiner Sicht heraus sehr wichtig. Wie sonst sollte man seine eigene Stimme finden? Durch das Erzählkonzept der Lichtungen war diese Schreibweise besonders riskant – denn ich wusste ja erst als der Roman fertig war, ob diese Blickrichtung funktioniert. Wenn nicht, hätte ich zwei Jahre meines Lebens einer Geschichte gewidmet, aus der nie ein Buch werden würde. Die damit verknüpfte Unsicherheit auszuhalten ist nicht immer leicht. Dennoch würde ich nicht anders vorgehen wollen.

Wieso haben Sie sich dazu entschieden, die Geschichte rückwärts zu erzählen?
Wolff: Levs Leben wird rückwärts erzählt, denn so begegnen wir einander auch im „echten Leben“. Man lernt jemanden kennen und wenn sich die Begegnung verstetigt, erfährt man nach und nach, was denjenigen zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist. Erzählweise und Inhalt sind verbunden, bedingen sich. Der Blick zurück lässt ahnen, auf welche Prägungen und Erlebnisse der Vergangenheit sich das Handeln in der Gegenwart bezieht. Für Levs Biographie bedeutet dies: Welche Selbstbilder und Glaubenssätze kann bzw. muss er eines Tages loslassen, wenn er sich verändern möchte? Ist es möglich, die Vergangenheit hinter sich zu lassen?
Wie wichtig war es Ihnen, die Grenze zwischen Liebe und Freundschaft fließend zu halten? Ist es eine lebenslange Freundschaft oder eine hoffnungslose Liebe?
Wolff: Ich wollte die Beantwortung dieser Frage gern den Leserinnen und Lesern überlassen. In jeder Freundschaft gibt es Liebe und jeder Liebe ist Freundschaft beigemischt. Das eine lässt sich nicht klar vom anderen unterscheiden. Ich bin ein Fan der Offenheit. Von Anfang steht fest: Die erzählte Welt ist nur ein Bruchstück. Nicht alles wird ins grellste Licht gezerrt, ein Rest Geheimnis bleibt. Diese Schwebe erlaubt es den Lesenden mit ihrer Fantasie, ihrer Vorstellungskraft die Lücken einer Geschichte zu füllen, die Fäden zu verknüpfen, oder eben auch bewusst nicht. Erst durch die Schwebe werde ich als Leserin Teil der Geschichte.

Haben Sie eine Lieblingsszene in dem Buch?
Wolff: Ganz viele! Ich liebe den Moment, als Levs Schwester Bredica im Türrahmen sitzt; als Lev und seine Großmutter im Regen mit dem Pferdewagen unterwegs sind; als Lev Marinelas Blicke richtig deutet. Ich bin Lev nahe, als er im Waldkapitel mit in Imres Hütte darf; als Kato ihm den Kater Khalil schenkt; als er im Kurkapitel in der Wanne liegt …

Je weiter man in der Geschichte kommt, desto verständlicher wird der Titel „Lichtungen“. Stand der Titel von Anfang an?
Wolff: Das Manuskript hieß lange „Novene“, weil ich die Geschichte in neun Kapiteln angelegt hatte. Als die Zeit der Veröffentlichung näher kam, wollte sich lange kein anderer Titel einstellen. Meine Lektorin Corinna Kroker und ich kamen dann eines Tages in einem Gespräch auf Lichtungen. Wir wussten schnell: Das ist er. Eine Lichtung ist von Wald umgeben, ein freier, von Bäumen geborgter Ort, ein Ort auf Zeit, inmitten der Dunkelheit. Für mich ist der Begriff auch ein Bild fürs Erzählen und letztlich der Erinnerung selbst. Das meiste, was wir erleben, vergessen wir. Wir erinnern unser Leben nicht als Kontinuum, sondern haben ein episodisches Gedächtnis. Levs Geschichte wird anhand einzelner Lichtungen erzählt, die aus dem Dunkel der Zeit aufragen.

Was macht das Schreiben für Sie besonders?
Wolff: Kunst geht in die Abstraktion, ebenso wie die Mathematik; sie ordnet das Chaos, von dem wir umgeben sind. Schreibend finde ich immer wieder neue Perspektiven zur Welt, ich reise in der Zeit, an andere Orte und bin doch ganz nah bei mir.

Gibt es schon neue Projekte?
Wolff: Mein Kopf arbeitet schon eine Weile an einer neuen Geschichte, aber ich habe noch nicht begonnen zu schreiben. Jetzt will ich Lev und Kato noch eine Weile auf ihrem Weg begleiten.

Die Fragen stellte

Laura Möndel.


ZUR PERSON

Iris Wolff , geboren 1977 in Hermannstadt, war nach dem Studium der Germanistik, Religionswissenschaft sowie Grafik und Malerei in Marburg an der Lahn langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Für ihr literarisches Schaffen wurde sie mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Marieluise-Fleißer-Preis und dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk.

ZUM BUCH

Es ist eine Reise in die Vergangenheit, eine Geschichte, die von hinten nach vorne erzählt wird. In Iris Wolffs neustem Roman „Lichtungen“ begleiten wir Kato und Lev, deren Geschichte in der Kindheit beginnt. Jahre später treffen sie in Zürich wieder aufeinander. Katos damaliger Wunsch das Heimatland Rumänien zu verlassen und die Freiheit zu finden ist groß. Das ist aber auch der Grund, wieso sich ihre Wege trennen. Denn Lev will nicht gehen. Als auf einer Postkarte nur die drei Worte „Wann kommst du?“, stehen, bricht Lev in die Schweiz auf, um Kato nach Jahren wiederzusehen. Dort beginnt ihre Geschichte.
Schritt für Schritt offenbart Iris Wolffs klare Sprache mehr über die Protagonisten und erzählt über Freundschaft, Liebe und eine einzigartige Verbindung.

DK


Iris Wolff: Lichtungen, Klett-Cotta, 256 Seiten24 Euro.