4. Abonnementkonzert des GKO
Künstlerische Wahrhaftigkeit

Cellist Alexey Stadler

10.12.2023 | Stand 10.12.2023, 20:00 Uhr

Paweł Kapuła dirigierte das GKO im Festsaal. Foto: Schaffer

Eine Seele wird geboren, geht auf Reisen, kommt zaghaft pochend in die Welt – und verlässt sie am Ende ebenso behutsam wieder, indem sie aufsteigt zu höheren Sphären. Die Musik von Peteris Vasks scheint aus dem Nichts zu entstehen, um schließlich wieder genau dorthin zurückzukehren. So beschreibt sinngemäß der junge, russische Cellist Alexey Stadler dessen Cellokonzert Nr. 2 „Presence“ bei seiner Einführung vor dem 4. Abonnementkonzert des Georgischen Kammerorchesters. In diesem Stück drückt der lettische Komponist seine Gedanken, seine Gefühle zu allem aus, was in der Welt geschieht.

Bei jeder Phrase der umfangreichen Solo-Kadenz, mit der der erste Satz beginnt, empfindet man förmlich, wie sehr Stadler das außergewöhnliche Privileg zu schätzen weiß, für seine Interpretation gemeinsam mit dem noch lebenden Komponisten in einen kreativen Prozess einzutreten, in einem Kommunikationsaustausch zu stehen. Zutiefst ergriffen und ergreifend taucht er im weiteren Verlauf immer mehr ein in Vasks’ einerseits zerbrechlichen, schwebenden, luziden, andererseits verstörenden, aufrüttelnden, ungestümen, schmerzerfüllten Klangkosmos.

Welche farbig-feinen Stimmungsnuancen und expressiven Potenziale er mit den verschiedensten Spieltechniken aus seinem Instrument hervorzaubert, sei es zum Beispiel in kantabler oder perkussiver Manier, lässt nur noch staunen. Besonders fasziniert sein leuchtend warmer Ton, der sich nicht nur voll Konzentration, Reinheit und Gelassenheit, sondern ebenso voll Kraft, geradezu furchtfrei im Theaterfestsaal entfaltet. Denn der zweite Satz legt schonungslos eine aggressive Realität, eine brutale Welt offen, mit der wir alle jeden Tag konfrontiert sind. Viel antreibender Rhythmus, ja mitunter sogar rauer, bitterer, quälender Sarkasmus – und trotzdem als Balance auch Momente der Ruhe. Um sich in Erinnerung zu rufen, dass selbst den bösesten, schlimmsten Augenblicken etwas Menschliches innewohnt.

Die tiefe Spiritualität dieser bisweilen minimalistisch anmutenden Musiksprache zeichnet das Georgische Kammerorchester (GKO) unter dem polnischen Dirigenten Paweł Kapuła mit großer emotionaler Bewegung nach. Die essenziellen Lebensfragen, die die Komposition aufwirft, kommen dadurch im bewegenden Zusammenspiel mit Alexey Stadler in immenser Ausdrucksstärke, in klarer Einfachheit und zeitloser Ausstrahlung zur Geltung. Dabei schwingt natürlich immer mit, dass es sich hier um einen Aufruf zu mentaler Freiheit, zum geistigen Widerstand gegen die Repressalien der russischen Kulturdoktrin handelt.

Der dritte Satz erweist sich als hingebungsvoller Liebesgesang, zunächst noch völlig ohne Zuversicht anhebend. Doch nach und nach verbreitet sich die Hoffnung immer mehr im Raum. Kurz vor dem Ende ertönt sanft und transzendental die Stimme eines Engels. Dafür scheint es in diesem Fall nur schlüssig, dass nicht Alexey Stadler selbst als männlicher Solist die gesungene Vokalise übernimmt, sondern in zarter, fast kindlicher Sopranlage (wie vom Komponisten vorgesehen) eine Geigerin aus den Reihen des Orchesters heraus. Ein überirdischer Abschluss mit zyklischem Ausblick: Auf die Erwartung nämlich, dass bald ganz rein eine neue, von allen Grausamkeiten unbelastete Seele auf dem Planeten Erde erscheinen wird. Stadler, dem GKO und Kapuła gelingt damit eine absolut berührende, von grenzenloser Empathie erfüllte Ausdeutung dieser nordischen Klangsphären.
Wie überzeugend das Georgische Kammerorchester außerdem die unterschiedlichsten folkloristischen Stilrichtungen darzubieten vermag, zeigt sich nach der Pause. Bei Béla Bartóks sechs „Rumänischen Volkstänzen“, die sich an charakteristischen Bauernmelodien aus Siebenbürgen orientieren, bringt der Klangkörper das geschilderte ländliche Dorfschenken-Ambiente bald in neckisch-derber Intensität, bald in intimer Filigranität zum Klingen, beschwört auf ungezwungene, raffiniert exotische Weise eine fast orientalisch wirkende Mystik herauf, beeindruckt– inklusive wunderbarer Violinsoli des Konzertmeisters – durch charmante Rustikalität und authentische Unverstelltheit im Vortrag. Bis hin zum rauschenden Finale, das später als Zugabe sogar noch eine Spur gelöster, gewitzter daherrast.
Die böhmische „Suite für Streichorchester“ von Leoš Janáček in all ihrer slawisch-expressiven Melodik hingegen gestalten die Musikerinnen und Musiker sowohl mit atmosphärischer Melancholie und ätherischer Eleganz (worin insbesondere das Solocello glänzen kann) als auch mit energisch-dramatischem Impetus. Gastdirigent Paweł Kapuła formt das Ganze eindringlich-souverän anhand von deutlichen, exakt anzeigenden, manchmal sogar regelrecht tänzelnden Gesten. Hör- und sichtbar legt er genauso großen Wert auf die stringenten Zusammenhänge wie auf die kleinen Facetten, die subtilen Details der Partituren. Ein ebenso spannungsreicher wie intensiver Konzertabend, der durch seine interpretatorische Aufrichtigkeit und seine künstlerische Wahrhaftigkeit besticht.

DK