Es lief alles etwas anders als erwartet. Das Mandelring-Quartett feierte 2023 Jubiläum. 40 Jahren zuvor taten sich die vier Musiker zusammen. Eine Auftragskomposition sollte bestellt werden, und es lag nahe, ein Werk des Geigers und häufigen Gastes des Ensembles, Christoph Schickedanz, zu bestellen. Er wollte ein Pendant zum „Quintenquartett“ von Joseph Haydn komponieren: ein spielerisches, munteres Quartenquintett, das raffiniert, vielleicht sogar witzig Motive verarbeitet. Doch daraus wurde nichts. Die Realität griff ein in Form des Ukraine-Kriegs und zerstörte alle guten Absichten.
Sebastian Schmidt, der Primarius des Mandelring-Quartetts, das am Dienstag beim Ingolstädter Konzertverein gastierte, erzählte das in einer langen, sehr emotionalen Rede, bevor die Musiker dieses Stück in Anwesenheit des Komponisten zum zweiten Mal überhaupt aufführten.
Musik ist ein reines Spiel mit Formen und Strukturen, die im Grunde nichts zu tun haben mit unserer sonstigen Realität. Ein pures, sinnliches Gedankenspiel. Und doch: Manchmal dringt die Wirklichkeit in dieses Glasperlenspiel ein. Der Geiger Sebastian Schmidt schilderte das sehr eindringlich. „Dieser Weg führte in die Sackgasse“, sagte er. „Christoph ist verheiratet mit einer ukrainischen Geigerin, und bald war das Haus voll mit Gästen, einer sechsköpfigen Schar, die ihm jeden Tag beim Essen ins Gesicht blickte.“ Es war unmöglich, den leichten Weg zu beschreiten. Und so wurde aus dem eigentlich leichtfüßigen Quartenquintett ein Kriegsstück. Eine Tour de Force durch musikalisch unwegsames Gelände, ein Ausloten von Grenzen, schmerzhaften Glissandi, vierfachem Fortissimo, absurden Rhythmen, eisigen Grundtönen.
Zwischen Haydn und Schickedanz
So ungefähr jedenfalls schilderte Sebastian Schmidt das Werk – das sich dann allerdings doch ein wenig anders anhörte. Irgendwie blieb mehr Haydn hängen in den vier Sätzen, als man vorher vermuten konnte.
Schickedanz steht in der Tradition der klassischen Musik. In seinem Quintett kulminieren alle Tendenzen unserer Zeit. So klingen Passagen wie Ligeti, andere wie Anton Webern oder ein wenig wie Schostakowitsch. Vor allem aber ist die Sonatenhauptsatzform, die Haydn eher unwissentlich ins Leben gerufen hat, auch bei ihm immer noch mindestens zu erahnen – wenn es um die Struktur der vier Sätze geht, um die Verarbeitung von Motiven. All das ist spürbar, aber, natürlich, Schickedanz hat einen ganz eigenen Stil, der nicht vergleichbar ist mit irgendeinem anderen Komponisten.
Am Ende wurde das Quartenquintett „Zum Gedenken der Opfer des Krieges in der Ukraine“ eher mit gedämpfter Freundlichkeit vom Konzertvereins-Publikum aufgenommen, vielleicht weil es die menschlichen Abgründe, die Katastrophe des Krieges so kunstfertig, so unfassbar gekonnt verarbeitet hat. Vielleicht weil sich bei so viel Raffinement eine Katharsis nicht einstellen mag. Weil manches doch zu schön, zu melodiös geraten ist. Das Stück beginnt mit einem huschenden Motiv, das von herben, fast schreienden Glissandi-Ausbrüchen durchbrochen wird, geht über zu einem verstörend berückenden Bratschen-Solo, begleitet von geisterhaftem Cello-Pizzicato. Das alles ist fast zu schön komponiert, es klingt bei aller Dramatik und Dissonanz mitreißend und hinreißend. Man spürt, dass Schickedanz ukrainische Volksmusik integriert hat. Weniger deutlich wird das Zitat der „Ode an die Freude“ aus Beethovens 9. Sinfonie, die offenbar im Schlusssatz zu hören sein soll.
Kriegskatastrophe und stürmischer Aufbruch
Am fassbarsten und gelungensten ist vielleicht der dritte Satz, der (wie fast alle Sätze) mit einem Schiller-Zitat überschrieben ist: „Auf blutge Schlachten folgt Gesang und Tanz“ (aus „Die Jungfrau von Orleans“). Das Quintett ist nach dem immer wieder in der klassischen Musik verfolgten Strukturprinzip „Per aspera ad astra“ (durch das Raue zu den Sternen) konstruiert: Nach der Krise des Krieges folgt der Friede und ein stürmisch optimistischer Aufbruch. Im dritten Satz wendet sich die Situation, ein verkrüppelter Walzer voller rhythmischer Ungereimtheiten verbreitet irritierenden Optimismus. Das klingt so humorvoll, so gewagt und fantasievoll, dass man unwillkürlich wieder an Haydn denken muss. Besonders an den dritten Satz des Quintenquartetts, mit dem das Mandelring-Quartett den Abend eröffnet hatte und das der Schickedanz-Komposition als Vorbild diente. Und das ebenso mit verschobenen Rhythmen spielt.
Überhaupt tat es dem Abend gut, dass diese tragödienhafte, unter die Haut gehende Komposition eingerahmt wurde durch zwei traditionelle Werke – den Haydn, und am Ende das F-Dur-Quintett von Johannes Brahms. Dabei verstärkte das Mandelring-Quartett der Ingolstädter Bratscher Roland Glassl. So exzentrisch die Musiker beim Schickedanz aufgetreten waren, so viel wohltuende Klangschönheit verströmten sie bei den beiden traditionellen Kompositionen. Beim Haydn vielleicht sogar ein wenig zu viel, man hat das Stück schon kühler, klassischer, mehr im Stil der historisch informierten Aufführungspraxis gehört. Und beim Brahms? Da überwältigte die Sinnlichkeit der Streichertöne, die frühlingshafte Wärme des Ausdrucks. Was für versöhnliche Klänge! Musik, die alles Unheil dieser Welt überstrahlt.
DK
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