Ingolstadt - Im Lebens eines Menschen geschehen manchmal kleine Momente, die etwas Großes im Inneren auslösen. So ist es Karin Dauer aus Reichertshofen ergangen, die viele Ingolstädter vom Wochenmarkt kennen: Es war sechs Uhr am frühen Morgen, sie baute gerade ihren Stand mit Obst und Gemüse auf, da sah sie eine alte Frau, die in Mülleimern nach Pfandflaschen suchte.
Eine ordentlich gekleidete und gepflegte Frau: Karin Dauer erkannt eine frühere Kundschaft, die lange nicht mehr zum Einkaufen gekommen war. Nur einmal hatte sie noch drei Tomaten und eine Gurke mitgenommen. „Dieser Anblick der Frau beim Stöbern im Müll hat mir so wehgetan, dass ich mir gesagt habe: ‚Irgendwas musst du tun‘“, schildert Karin Dauer ihr Erlebnis. „Ich sehe immer wieder solche Senioren, die mit Tüten umhergehen und Pfandflaschen sammeln. Das finde ich beschämend in so einer reichen Stadt.“
Dieser kleine Schmerz ließ Karin Dauer nicht mehr los, und so beschloss sie, eine kleine, ganz private Aktion zu starten. Im Advent. Dass unsere Zeitung darüber berichtet, gefällt der Marktfrau gar nicht, denn sie will es nicht an die große Glocke hängen. Aber schließlich willigt sie doch ein.
Und so treffen wir sie am Samstag auf dem Theatervorplatz. Es ist 12.30 Uhr: Auf dem Wochenmarkt beginnt das große Aufräumen. Am Stand von Karin Dauer ist diesmal besonders viel übrig geblieben – Obst und Gemüse türmen sich noch in den Kisten. Doch das ist gut so, denn Karin Dauer hat extra viel mitgenommen und spendet an diesem Samstag alles, was sie zuvor nicht verkauft hat. Die Marktfrau aus Reichertshofen will älteren Menschen, die knapp bei Kasse sind, zum Nikolaustag eine Freude machen. Ihre Oma habe immer gesagt: „Mädel, wenn es dir gut geht, dann musst du etwas zurückgeben.“
Von den Schmankerltouren über den Wochenmarkt kennt die Reichertshofenerin Karoline Schwärzli-Bühler, Chefin der gemeinnützigen Cantina International, die auch das Sozial-Café im Neuburger Kasten betreibt – ein beliebter Treffpunkt für Senioren. Zusammen mit anderen SPD-Frauen kümmert sich Karoline Schwärzli-Bühler um den Abtransport und die Verteilung der Lebensmittel.
Kiloweise Kartoffeln, Karotten, Kürbisse: Im Eiltempo, konzentriert und schweigend, räumen Karin Dauer und ihre Tochter Christina den Marktstand leer. Lauch, Sellerie und Zwiebeln, Wirsing, Chinakohl und Austernpilze, Melonen, Orangen und Äpfel – was vom Markttag übrigbleibt, soll anderen Menschen eine Freude machen. Karin Dauer blickt ernst und will nicht darüber reden, was gerade in ihr vorgeht. Nach einer halben Stunde ist der Ford Transit bis unters Dach voll.
Nach der kurzen Fahrt zu Vronis Ratschhaus wird wieder alles ausgeladen, und Frauen von der SPD füllen die gespendeten Lebensmittel in handliche blaue Plastikeimer: Veronika Peters, Inge Bechstädt, Olga Paul, Bettina Schallert und Kerstin Lang packen mit an. „Ich dachte, in Corona-Zeiten werden die Menschen egoistischer“, meint Veronika Peters. „Aber das stimmt nicht: Sie sind großzügig.“ Sie fände diese Aktion total gut, sagt Kerstin Lang: „Ich mache viel ehrenamtlich, aber momentan sind uns ja oft wegen Corona die Hände gebunden. Flüchtlinge, Senioren, Kranke oder Einsame – all diese Menschen warten sehnsüchtig darauf, dass wir uns wieder um sie kümmern. Darum freue ich mich, dass ich endlich mal wieder aktiv helfen kann.“
Im Ratschhaus duftet es inzwischen nach frischen Kräutern und Knoblauch. Eine Großfamilie nimmt drei Eimer mit, ein paar Schoko-Nikoläuse gibt es obendrauf: „Süßigkeiten gibt es auch? Da freuen sich meine Kinder“, sagt die Mutter. Dann kommt ein Mann, der staunt beim Blick in den Eimer: „Sogar einen Granatapfel und Pak Choi sind dabei – richtig sündteure Sachen“, meint Bernd. „Ich werde die Sachen unter Freunden verteilen, die sie gut brauchen können. Ich finde so eine offene Aktion schön, denn ich weiß, dass sich viele Leute schämen, zur Tafel zu gehen.“ Glücklich macht er sich auf den Heimweg: „Das ist schon fast wie Weihnachten.“
Was noch übrig bleibt, liefert Schwärzli-Bühler danach mit dem Auto frei Haus an Bewohner im Augustin-, Pius- und Konradviertel. In der Schwäblstraße steht Edelgard Wessel auf dem Balkon und ist perplex über die unverhofften Gaben, die ihr über die Brüstung gereicht werden: „Das ist ja mal ein Nikolaus“, freut sich die 73-Jährige. „Ich bekomme nur eine Witwenrente. Solche feinen Sachen vom Wochenmarkt kann ich mir sonst nicht leisten. Dass ich mal etwas geschenkt kriege, ist mir noch nie passiert.“
Die gehbehinderte Seniorin erzählt, wie ihr Corona zu schaffen macht. „Mein verstorbener Mann fehlt mir sehr. Vor Weihnachten fürchte ich mich richtig. Aber die Baptistengemeinde kümmert sich sehr gut um mich.“ Die 73-Jährige blickt in den Eimer: „Den Nikolaus und die Lebkuchen kriegen meine Nachbarskinder, die für mich wie Enkel sind.“ Schenken und Freude machen – genau das will Karin Dauer mit ihrer Aktion erreichen. Karoline Schwärzli-Bühler steigt wieder in ihren Ford und fährt weiter: Auf ihrer Liste stehen weitere Adressen älterer Menschen, denen es nicht so gut geht.
Suzanne Schattenhofer