Projekt des Reuchlin-Gymnasiums und der Stadt
Bleibende Erinnerung an Mord und Vertreibung: Übergabe zweier Gedenkschilder an jüdische Familien am Dienstag

18.08.2022 | Stand 22.09.2023, 6:43 Uhr

Mitte der 30er-Jahre entstand diese Aufnahme der Familie Herrmann in ihrer damaligen Wohnung an der Donaustraße 6. Hinter den Eltern Sophie und Julius Herrmann stehen die Kinder Gerda, Kurt und Käthe. Foto: Janis

Die Stadt Ingolstadt erinnert mit zwei neuen Hinweistafeln an ihre jüdischen Mitbürger, die von den Nationalsozialisten ermordet oder vertrieben wurden. Bürgermeisterin Dorothea Deneke-Stoll wird am Dienstag, 23. August, um 17 Uhr vor dem Haus Ziegelbräustraße 2 ein Gedenkschild für die jüdische Familie Sonn übergeben. Nach einem Ortswechsel wird ein weiteres Schild vor dem Haus Donaustraße 6 für die jüdische Familie Hermann aufgestellt. Beide Familien hatten bis 1938 viele Jahre in Ingolstadt gelebt.

Die Schilder sind das Ergebnis einer Kooperation des Projekts „Opfer des Nationalsozialismus in Ingolstadt“, des Stadtarchivs und des Reuchlin-Gymnasiums. Bereits im Herbst 2019 hatte ein P-Seminar des Reuchlin-Gymnasiums unter Leitung des Lehrers Markus Schirmer mit der Forschung nach den Schicksalen ehemaliger jüdischer Schüler ihrer Schule begonnen. Dabei standen sie auch im Kontakt mit Angehörigen der Familien. Es entstand eine Ausstellung, eine dauerhafte Erinnerungstafel im Schulgebäude sowie ein Rundgangkonzept zu den ehemaligen Wohnorten der jüdischen Schülerfamilien.

Als weitere Würdigung dieser Opfer des Nationalsozialismus wurden zwei öffentliche Gedenkschilder entwickelt, so die Stadt weiter. Sie zeigen Porträts der Betroffenen und geben Auskunft über ihr jeweiliges Verfolgungsschicksal. Damit wird auch dem Wunsch der Angehörigen nach einer öffentlichen Würdigung entsprochen. Die Gedenkschilder werden an den ehemaligen Wohnorten der Familien temporär an den Masten von Verkehrsschildern installiert.

Max konnte nie als Anwalt tätig werden

Samson Sonn und seine Gattin Henriette wurden beide im Jahr 1870 in Unterfranken geboren und lebten seit 1900 in Ingolstadt. Zwischen 1910 und 1938 führten sie eine Woll- und Kurzwarenhandlung im Erdgeschoss der Ziegelbräustraße 2. Die Familie wohnte im zweiten Stock dieses Hauses. Der 1907 geborene Sohn Max besuchte von 1917 bis 1926 das heutige Reuchlin-Gymnasium und begann ein Jura-Studium mit anschließender Promotion in Bonn und München. Wegen der antisemitischen Politik der Nationalsozialisten konnte er jedoch nie als Anwalt tätig werden.

Auch die Familie in Ingolstadt war zunehmender Anfeindung ausgesetzt. Während der Novemberpogrome am 10. November 1938 wurde die Familie Sonn aus Ingolstadt vertrieben. Am 3. Juli 1942 wurde das Ehepaar Sonn ins Ghetto Theresienstadt deportiert und am 19. September 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet.

Max Sonn gelang bereits 1938 die Flucht nach England. Dort wurde er zunächst als „Enemy Alien“ auf der Isle of Man interniert. Später arbeitete er als Verwaltungsangestellter in einer Fabrik in Newcastle. 1940 heiratete er „Loni“ Babette Gutmann aus München in Manchester. Das Paar hatte zwei Kinder: Michael und Helen. Mit diesen beiden konnten die Schülerinnen und Schüler des Reuchlin-Gymnasiums im Zuge ihrer Recherchen Kontakt aufnehmen. So konnte das Schicksal der Familie Sonn aufgearbeitet werden.

Die Familie Hermann lebte seit 1910 in Ingolstadt. Julius Hermann war Kaufmann und führte das Bekleidungsgeschäft Klein der Schwiegereltern weiter. Bis 1917 war das Ladengeschäft Am Stein 2 und zog dann um in die Donaustraße 6. Die Familie lebte über dem Geschäft im zweiten Stock. Kurt Hermann besuchte von 1924 bis 1929 das Humanistische Gymnasium, absolvierte eine Ausbildung zum Dekorateur und Fotograf. Im Juli 1938 heiratete er in München Gertrud Bickart.

Passagierkarten für Schiff nach Kuba

Noch vor den Novemberpogromen versuchte die Familie Hermann, das nationalsozialistische Deutschland zu verlassen. Die Eltern Julius und Sophie sowie die Tochter Gerda gelangten an Passagierkarten für das Schiff „St. Louis“ nach Kuba. Dort wurden sie trotz Transit-Visum nicht von Bord gelassen. Mit ihnen erlitten 900 weitere jüdische Flüchtlinge dieses Schicksal. Viele wurden Opfer des Holocaust. Julius Hermann verstarb im August 1941 nach einem Luftangriff in Brüssel. Sophie Hermann wurde gemeinsam mit ihrer Tochter Gerda im Juli 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Nur die Geschwister Kurt und Käte überlebten. Ihnen gelang 1938 die Flucht über Kuba in die USA. Käte ließ sich in New York nieder.

Kurt gründete in Florida ein Fotogeschäft. Er verstarb am 25. Dezember 1980 in Pensacola, Florida. Er und seine Frau Gertrud bekamen zwei Kinder: Mit Charlotte und Ron konnten die Schüler des Reuchlin-Gymnasiums Kontakt aufnehmen. So konnte auch das Schicksal der Familie Sonn aufgearbeitet werden.

DK