Ingolstadt
"Da ist Ingolstadt kein Platz an der Sonne"

Helmut Hartl über die Überschuldung privater Haushalte und darüber, wie individuelle Beratung hilft

30.05.2021 | Stand 03.06.2021, 3:33 Uhr
Den Mensch als Mensch zu behandeln - das sei ihm und seinen Mitarbeitern wichtig, sagt Helmut Hartl, Leiter der Schuldner- und Insolvenzberatung des Diakonischen Werks Ingolstadt. −Foto: Diakonisches Werk Ingolstadt

Ingolstadt - Helmut Hartl leitet die Schuldner- und Insolvenzberatung des Diakonischen Werks Ingolstadt.

Wir haben mit ihm über die Arbeit der Beratungsstelle gesprochen.

Herr Hartl, angenommen, jemand kann einmal die Wohnungsmiete nicht zahlen. Ist er überschuldet?
Helmut Hartl: Nein. Dann hat die Person zwar ein Problem, möglicherweise ein größeres, weil vielleicht das Konto überzogen ist. Aber wegen einer Monatsmiete verliert man nicht die Wohnung. Meistens findet man mit dem Vermieter eine Lösung.

Wie merkt man dann, dass man überschuldet ist?
Hartl: Wenn man Miete und Strom nicht mehr bezahlen kann. Wenn die Bank die Lastschriften zurückgehen lässt, nichts mehr zum Essen auf dem Tisch steht. Das sind die härtesten Auswirkungen.

Wann wäre der Moment zur Schuldnerberatung zu gehen?
Hartl: Wenn man meint, dass man nicht mehr alleine mit dem Problem fertig wird. Das kann schon sein, wenn man mit einer Miete im Rückstand ist. Am liebsten ist es mir, wenn die Leute einen Kredit aufnehmen wollen und kommen und wir zusammen ausrechnen, ob das Einkommen ausreicht, um Miete, Strom, Telefon und Ratenzahlung zu leisten. Aber es passiert nur etwa einmal im Jahr, dass jemand mit mir darüber redet.

Das heißt, die meisten kommen, wenn es brenzlig geworden ist.
Hartl: Meistens wenn der Vermieter schon die Kündigung ausgesprochen hat, die Stadtwerke Ingolstadt die Stromsperre angedroht haben, die Bank nichts mehr überweist, die Ratenzahlungen zurückgehen oder der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht.

Wie gehen Sie dann vor?
Hartl: Grundsätzlich steht der Haushaltsplan im Vordergrund: Wie viel Einkommen ist da? Und welche Ausgaben? Dann kann man schauen, welche reduziert werden können. Als nächstes kann man überlegen, ob man mit Gläubigern verhandeln kann. Vielleicht ist jeden Monat ein bestimmter Betrag verfügbar, dass man Ratenzahlungen reduziert. Vielleicht nur für eine bestimmte Zeit. Wenn man merkt, das Ganze funktioniert gar nicht, gibt es die Möglichkeit, Stundungen zu machen, dass die Gläubiger die Person mal für zwölf Monate in Ruhe lassen und dann kann man sehen, wie's weitergeht. Wenn gar nichts mehr geht, macht man ein Verbraucherinsolvenzverfahren.

Wie lange begleiten Sie verschuldete Privathaushalte?
Hartl: Manche sind zu einem Termin da, auf dem man ihnen sagt: Macht das und das. Die sind so fit, dass die das alleine regeln können. Manche kommen zwei-, dreimal, wollen dass man etwa einen Brief an den Telefonanbieter schreibt und eine Ratenzahlung vereinbart. Das dauert etwa zwei, drei Monate. Und manchmal habe ich Schuldner, die sind zehn Jahre bei mir oder auch länger. Bis ein Insolvenzerfahren beendet ist, bis die Kosten erledigt sind, bis die Schufa wieder bereinigt ist und so weiter.

Ein Insolvenzverfahren gilt wohl als der letzte Ausweg?
Hartl: Ein Insolvenzverfahren ist eigentlich immer eine hundertprozentige Sicherheit. Da weiß der Klient, dass er nach drei Jahren restschuldbefreit ist. Geschenkt bekommt man damit nichts. Die Schuldner müssen regelmäßig Unterlagen bringen, sich mit dem Insolvenzverwalter auseinandersetzen.
Wenn Familien so arg verschuldet sind, ist dann eine psychische Betreuung notwendig?
Hartl: Es steht im Gesetz, dass die Beratungsstelle eine psychosoziale Beratung und Begleitung anbieten und durchführen muss. Zu uns kommen Leute, die keine Termine oder Vereinbarungen einhalten, die manchmal unmotiviert sind. Unsere Aufgabe ist es, ihnen ein bestimmtes Handwerkszeug mitzugeben, damit sie wieder verantwortungsvoll ihre Sachen regeln können. Uns ist wichtig, die Menschen als Menschen zu behandeln. Wenn jemand zum Rechtsanwalt geht, schaut der, was man wegen der Schulden macht. Wir sehen uns die Kontoauszüge an und wenn ich da etwa "Bet and Win" stehen sehe, frage ich: "Spielen Sie? " Bevor wir persönliche Probleme nicht regeln, bringen die ganzen Schuldenregulierungen nichts. Wenn jemand sein ganzes Geld verspielt, hilft es nichts, wenn ich mit zehn Gläubigern Ratenzahlungen vereinbare.
Können sich die Menschen denn von Anfang an öffnen?

Hartl: Der erste Schritt, dass sie kommen, ist schon oft nicht so einfach. Da ist oft ein Gefühl von Schuld und Niederlage, wenn ich meine Sachen selbst nicht regeln kann. Dann muss ich mich überwinden, einem Fremden zu sagen, welche Probleme ich habe. Wir versuchen, das so offen wie möglich zu machen. Ich habe das Gefühl, dass sie sich nach einer bestimmten Zeit öffnen.

Was sind denn häufige oder typische Ursachen, dass private Haushalte in die Überschuldung geraten?
Hartl: Etwa die Hälfte der Männer und Frauen, die zu uns kommen, sind arbeitslos. Das hat in letzter Zeit wieder etwas abgenommen. Alleinerziehende kommen in letzter Zeit häufiger. Vermehrt kommen ältere Menschen, was wir früher nicht so gehabt haben. Ich berate etwa eine ältere Frau, die ihre Ratenzahlungen nicht leisten kann. Wenn sie kommt, weint sie sich erst mal zehn Minuten aus. Grundsätzlich ist es in den letzten Jahren so gewesen, dass die Sachen und die Mieten immer teurer werden. Ich habe schon immer Familien gehabt, die froh waren, dass sie beim Versandhaus mit Raten bezahlen können, weil sie sonst für die Kinder keine Winterstiefel hätten kaufen können. Auch wenn ich Schuldner- und Insolvenzberater bin, bin ich nicht gegen Kredite oder Darlehen. Aber man muss verantwortungsvoll damit umgehen.

Wie steht Ingolstadt hinsichtlich Überschuldungen da?

Hartl: Ingolstadt ist Durchschnitt, was Überschuldung betrifft. Nichtsdestotrotz sind es viele, viele Menschen, die mit uns telefonieren, die vorbeikommen. Da ist Ingolstadt kein Platz an der Sonne.

DK

Das Gespräch führteChristine Zinner