Untergriesbach
"Er wollte bestimmt nicht, dass ein anderer geht"

Josef Kronawitter starb als Ingolstädter Gebirgspionier in Afghanistan – Seine Familie lebt seit drei Jahren mit dem Verlust

15.11.2013 | Stand 02.12.2020, 23:25 Uhr

 

Untergriesbach (DK) Sie kommt nicht täglich her; vielleicht einmal in der Woche. Sie würde ja öfter hingehen können, es ist nicht weit von daheim. „Aber wieder von hier wegzugehen“, sagt sie, „das fällt immer so schwer.“ Maria Kronawitter steht am Grab ihres Sohnes Josef, den sie oft noch „Seppi“ nennt wie den kleinen Buben, der er mal war.

Es ist ein strahlender Herbsttag, die Friedhofsgärtner stutzen die Sträucher und harken Laub zusammen. Der Blick geht weit über die Hügellandschaft östlich von Passau. Da, hinter den bewaldeten Hängen, liegt Österreich. Eine schöne Gegend, ein schönes Zuhause. Auch Josef Kronawitter hatte hier noch viel vor. Er ist nicht mehr dazu gekommen.

Josef Kronawitter ist in Afghanistan gefallen, mit 24 Jahren. Am 15. April 2010 hat ihn ein am Straßenrand versteckter Sprengsatz getötet. Die Bodenplatte des nur leicht gepanzerten Geländewagens Eagle, den der Stabsunteroffizier des Ingolstädter Gebirgspionierbataillons 8 gesteuert hatte, konnte der Wucht der Explosion nicht standgehalten. Für Kronawitter und seinen Kameraden Marius Dubnicki gab es keine Rettung. Sie waren sofort tot. Noch zwei weitere deutsche Soldaten, allerdings nicht aus der Ingolstädter Einheit, kamen ums Leben.

Über dreieinhalb Jahre ist das jetzt her. Für die Familie zwar schon eine gewisse Zeit, um etwas Abstand zu gewinnen, doch noch viel zu frisch, um von Bewältigung zu sprechen. Niemand kann sagen, ob die Eltern, ob die Schwester, ob die Verlobte, die damals mit Josefs Kind schwanger war, diesen Verlust jemals ganz verwinden werden. Bislang ist der Schmerz immer sofort da, wenn im Radio oder im Fernsehen nur dieses eine Wort fällt: Afghanistan. „Das reißt“, sagt die Mutter, „da zuckt man einfach.“

Die Kronawitters haben das erleben müssen, was weltweit schon millionenfach durchlitten wurde, was seit Jahrtausenden zur Menschheitsgeschichte gehört und dennoch in jedem Einzelfall so furchtbar wehtut. Der Tod als Massenprodukt des Krieges – in Deutschland ist das allzu bekannt und jedes Jahr einen Gedenktag wert. Auch an diesem Sonntag wird anlässlich des Volkstrauertages wieder an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft erinnert. Inzwischen schließen die Redner ein ums andere Mal auch Männer und Frauen ein, die für die Bundesrepublik gefallen sind: Mitglieder einer Bürgerarmee, die sich für Frieden und Wiederaufbau in Krisengebieten eingesetzt und dafür den höchsten Preis gezahlt haben.

„Es ist nichts Besonderes“, sagt Maria Kronawitter, wenn sie auf den Tod ihres Sohnes beim Auslandseinsatz angesprochen wird. Und sie weiß doch im selben Augenblick, dass diese Aussage nicht stimmt. Sie meint etwas anderes: Bitte keine übertriebene Anteilnahme für unsere Situation – andere haben das doch auch erleben müssen. Der Tod beim Bundeswehreinsatz ist zwar zum Glück nicht an der Tagesordnung, aber er ist doch schon so oft vorgekommen, dass auf dem Hof des Berliner Verteidigungsministeriums ein Mahnmal für die Opfer steht – Soldaten, die verunglückt sind bei Missionen fern der Heimat oder gefallen in nie erklärten Kriegen.

Der Sepp, das weiß die Familie, hat diese Aufgabe bei der Bundeswehr mit ganzem Herzen gemacht. Für acht Jahre hatte er sich verpflichtet, direkt nach der Lehre zum Zimmerer. Fünf Jahre war er schon beim Bund, als er mit den Ingolstädter Kameraden nach Afghanistan ging. Auch ein Onkel, der Bruder der Mutter, war Unteroffizier bei den Pionieren – Feldwebel. Den hatte sich der Neffe zum Vorbild genommen. Und als er selber die Unteroffizierslaufbahn einschlug – zunächst noch am alten Standort des Bataillons in Brannenburg am Inn, dann in Ingolstadt –, da war er mit Begeisterung dabei. „Es war in Ordnung für ihn; er war in seinem Element“, weiß Maria Kronawitter. Deshalb hat sie der Bundeswehr auch nie einen Vorwurf gemacht. Die gute Kameradschaft, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, das hatte ihrem Sohn einfach gefallen.

Deshalb, so glaubt die Mutter, war dieser Einsatz am 15. April 2010 in der Provinz Baghlan, als der Sepp gebeten worden war, als Kampfmittelräumer die Begleitung eines Konvois zu übernehmen, auch etwas Selbstverständliches für ihren Sohn: „Er wollte bestimmt nicht, dass ein anderer aus seiner Kompanie geht, da hätte er sich doch nur Vorwürfe gemacht, wenn dem etwas passiert wäre.“

Dann ist etwas passiert. Und das Leben der Kronawitters hat sich für immer verändert. Die Mutter war gerade mit dem Hund im Auto auf dem Weg zum Tierarzt, als die erste Meldung vom tödlichen Anschlag auf die Bundeswehrsoldaten im Radio kam. Zuerst hat sie nicht realisiert, dass es da um ihren Sohn gehen könnte. Auf der Heimfahrt kamen dann schon bange Gedanken auf. Als am Abend der Bataillonskommandeur aus Ingolstadt mit dem Militärpfarrer in der Tür stand, war auf einen Schlag alles klar, noch bevor die ersten Worte gewechselt waren. „Ich hab’ nicht weinen können“, erinnert sich die Mutter, „ich hab’ mich entschuldigt, dass ich nicht in Tränen ausgebrochen bin, aber ich war danach tagelang einfach in einer Schockstarre.“

Josef Kronawitter war der einzige Sohn. Er hätte mit seiner jungen Familie die Wohnung oben im 200 Jahre alten Haus der Eltern beziehen sollen. Es war doch schon klar, dass der Enkel kommen würde, dass die jungen Leute das Haus auf Vordermann bringen wollten. Jetzt ist Enkel Raphael schon drei Jahre alt und hat seinen Vater nie gesehen. „Er weiß, dass der Papa im Himmel ist“, erzählt Maria Kronawitter, aber über die Umstände wisse er noch nichts – „das versteht er ja noch nicht“. Tochter Christina (25) wohnt jetzt in der Wohnung, die ihr Bruder beziehen sollte. Die Familie hat alles ohne Josefs Hilfe saniert, hat sich monatelang in diese Arbeit gestürzt, die ein wenig abgelenkt hat vom Schmerz. Es ist schön geworden. Über der neuen Essecke im Erdgeschoss steht beim Fenster ein Bild des Gefallenen. Ein Rosenkranz ist darüber gehängt worden, und davor liegt ein blauer Stein aus Afghanistan. Josef hatte sich immer für Mineralien interessiert und auch einen solchen Stein aus seinem Einsatzgebiet mitbringen wollen. Jetzt hat das ein Kamerad für ihn getan.

„Mein Mann spricht nicht viel darüber“, berichtet Maria Kronawitter. Er habe seine eigene Art, mit dem Schicksal der Familie umzugehen. „Manchmal steht er still vor diesem Bild“, sagt die Frau. Natürlich haben sich die Eheleute ganz unter sich über ihren Verlust ausgesprochen, ihre Verzweiflung geteilt. Der Weg der Familie ist ein anderer geworden, keine Frage. Er wird immer ein anderer bleiben.

Die langen Gespräche mit dem Sohn, sie werden für immer fehlen. „Bleib doch noch ein bissl“, habe er immer gesagt, wenn er auch tief in der Nacht noch kein Ende der Unterhaltung finden mochte. Nach dem Abflug am 16. März habe er sich oft gemeldet, mal am Telefon, mal per Mail, mal per SMS. Hat er jemals etwas angedeutet von Gefahr? „Mir hat er ja sowieso nie was gesagt“, berichtet die Mutter. Bei der Schwester war er etwas offener: „Das wisst ihr ja gar nicht, was hier unten abläuft“, hat er einmal vieldeutig gesagt. Wenige Wochen später wusste man es dann zu gut.

Die große Trauerfeier im Ingolstädter Münster, zu der eigens die Kanzlerin, der Außen- und der Verteidigungsminister und weitere Spitzenvertreter von Staat und Streitkräften angereist waren, verlangte den Angehörigen alle Kräfte ab. Als die Bundeswehr bei der privaten Beisetzungsfeier nochmals eine Aufbahrung mit Ehrenwache in der Ortskirche anbot, lehnte die Familie das dankend ab – es wäre über das Erträgliche gegangen. Schlimm genug, dass sich die Mutter später von einer Frau aus dem Ort dumm anreden lassen musste: Sie hätte für ihren Sohn ja nicht solch eine große Beisetzung akzeptiert, lautete der überflüssige Kommentar. Der Tochter wurde in einem Laden offen ins Gesicht gesagt, dass die Familie doch selber schuld sei, den Sohn zur Bundeswehr gelassen zu haben. Ausnahmen zwar im großen Meer der ehrlichen Anteilnahme, aber auch das hat es gegeben.

Das Grab von Josef Kronawitter wird hoffentlich das einzige eines gefallenen Soldaten aus neuerer Zeit auf dem Untergriesbacher Friedhof bleiben. „Ehrengrab der Bundeswehr“ steht dort auf einer kleinen Steinplatte. Weil Soldatengräber heute nicht mehr in die Uniformität der traditionellen Kriegsgräberstätten gezwungen werden, hatte die Familie die Möglichkeit, ihre Form der Erinnerung zu finden. „Deine Sonne versank, bevor es Abend war“, steht auf dem Grabstein, und durch ein Glaselement schimmert an diesem freundlichen Herbsttag warmes Licht. Der Spruch würde zu fast allen Soldatengräbern dieser Welt passen. Dass das auch für die Zukunft gelten wird, ist traurige Gewissheit.