Ingolstadt
Expansion ohne Ende

21.10.2010 | Stand 03.12.2020, 3:32 Uhr
Spaß beim Ernst des Lebens haben diese beiden Schülerinnen der Fachoberschule. Seit 1988 residieren FOS und BOS in der alten Flandernkaserne zwischen Oberem Graben, Bergbräustraße und Jesuitenstraße. Dennoch reicht der Platz für die inzwischen 1650 Schüler nicht. −Foto: Rössle

Ingolstadt (DK) Mit begrenzten Mitteln und reichlich Skepsis bedacht, startete vor 40 Jahren die Fachoberschule. Franz Riederer, der Gründungsdirektor, verfolgte erfreut, wie sich aus dem improvisierten Pilotprojekt die größte Schule der Region entwickelte. Entsprechend selbstbewusst feiert die FOS das Jubiläum.

Die Herren im Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen ließen ihrem Bildungsdünkel freien Lauf. Vielleicht waren es auch antibayerische Reflexe, die ihre Schmährede beflügelten. Oder gar beides. Die landesweite Einführung von Fachoberschulen, tönte es aus Düsseldorf, sei "die bayerische Variante des Billigabiturs". Kultusminister von NRW war damals, am Anfang der Siebziger, ein Sozialdemokrat namens Johannes Rau, doch der Spruch "Versöhnen statt spalten" scheint noch nicht in seinem Poesiealbum gestanden zu haben.
 

Auch 40 Jahre später hat Bayern das nicht vergessen. Franz Riederer, Gründungsdirektor der Ingolstädter FOS, ist bis heute beleidigt. "Das ist ja ein Hohn, wenn man sich das Bildungsniveau in Nordrhein-Westfalen anschaut!", klagt der 78-Jährige. Und Erich Winter, der aktuelle Chef der FOS, hofft dass in NRW "spätestens nach den Pisa-Studien" in dieser Frage gewisse Einsicht eingekehrt ist – so von wegen Billigabitur.

Riederer begann im Herbst 1970 mit 162 Schülern in neun Klassen, die von sieben hauptamtlichen und 19 nebenberuflichen Lehrern unterrichtet wurden. Winter leitet heute (inklusive der etwas jüngeren Berufsoberschule, BOS) ein Haus mit 1650 Schülern und 145 Lehrern – die mit Abstand größte Schule der Region. Dieser Aufstieg erzählt viel von der Geschichte der Fachoberschulen in Bayern. Einer Erfolgsgeschichte, wie inzwischen auch Nordrhein-Westfalen bestätigen könnte.

Den Weg hatte der Bayerische Landtag geebnet: Am 27. Oktober verabschiedete er das Fachhochschulgesetz. Damit wurden die höheren Fachschulen und Lehranstalten für Technik (Polytechnikum), Wirtschaft, Sozialwesen und Pädagogik (PH) zu acht staatlichen Fachhochschulen (FH) vereinigt. "Das war eine Art Flurbereinigung im Bildungssystem", erzählt Riederer. Der neue Typ Fachoberschule sollte die FHs speisen.

An 37 Standorten ging schon 1970 eine FOS an den Start, 36 von ihnen feiern heuer mit der FOS Ingolstadt 40. Geburtstag. "Alle waren Pioniere im beruflichen Oberschulwesen", erklärt Maria Heller. Die Fachbetreuerin für Geschichte hat sich mit der Historie des Hauses befasst. "Die Gründung der FOS war eine Konsequenz aus den Bildungsreformen der sechziger Jahre." Die neue Schulart folgte vorrangig dem Ziel, dem besorgniserregenden Fachkräftemangel im Ingenieurswesen zu begegnen. "Außerdem sollte die FOS die Transparenz des Bildungssystems verbessern", erzählt die Lehrerin. "Das war der erklärte politische Wille."

Franz Riederer, ein Landshuter, der in Straubing aufgewachsen ist, wechselte 1970 "als einfacher Lehrer" vom Münchner Rupprecht-Gymnasium auf den Chefposten in der Schanz, 38 Jahre alt und von Elan erfüllt. "Ich wollte pädagogisch etwas Neues machen und eigene Vorstellungen verwirklichen", erzählt er. Immerhin durfte er sich als leitender Pionier auf ein unbekanntes Terrain wagen. Experimentierfreude und Aufbruchstimmung brachen sich Bahn, bis er dessen gewahr werden musste, "dass der Zwang der Umstände vieles nicht zuließ".

Der Geist der Innovation beseelte das Projekt sehr spärlich. "Unser Etat war aus Restposten zusammengestellt, an technischer Ausstattung gab’s praktisch nichts. Das war lange ein reiner Kreideunterricht." Ausgerechnet in einer Bildungsstätte, die der Rekrutierung des Ingenieursnachwuchses diente. An Lehrern mangelte es schon damals, Sponsoren musste Riederer erst noch suchen, und mit dem geplanten Neubau für die FOS am Brückenkopf wurde es auch nichts. Stattdessen zogen die Schüler in ein Haus an der Kupferstraße, das zum Gnadenthal-Komplex gehört. Die Verwaltung wurde an der Johannesstraße angesiedelt – beides ölofenbeheizte Provisorien. Von Neid erfüllt blickten die FOS-ler in die Jesuitenstraße, wo damals Hardt-Waltherr Hämers stattlicher Betonbau für das Katharinen-Gymnasium entstand.

Die intensive Bildungsexpansion der Siebziger hatte mit vielen Widerständen ihre Not. An einem Informationsabend des Arbeitskreises "Schule und Wirtschaft" referierte Riederer Ende 1970 mit Kollegen über den "Ansturm auf die Gymnasien". Am Schluss stand die Erkenntnis, "daß das Zeitalter des hochgebildeten Spezialisten – von spitzen Zungen auch als "Fachidioten" beschimpft – immer mehr im Kommen ist. Ja, daß es auf Kosten der Allgemeinbildung geradezu gefordert wird", berichtete damals der DK. Ein Elektromeister aus Mailing soll daraufhin gejammert haben: "Was bleibt da noch für uns"

Doch auch unter den Schülern herrschte miese Stimmung. Schon nach wenigen Monaten unterstellten sie den Betrieben, Praktikanten von der FOS als "billige Hilfsarbeiter" zu missbrauchen. Dazu kursierte ein anonymes, scharf formuliertes Flugblatt. Die Schülersprecher Werner Dlugosch und Dieter Schuller organisierten eine Podiumsdiskussion, bei der sie vor den Landtagsabgeordneten Peter Schnell und Willi Schneider ihrem Ärger freien Lauf ließen. "Überfordert und ausgebeutet" wären sie, der Lehrplan sei viel zu theoretisch und die Unterbringung miserabel.

Dennoch wuchs die FOS weiter. Rapide sogar. Als Riederer nach nur einem Jahr sein Amt abgab, um sich als Direktor dem Aufbau des neuen Apian-Gymnasiums zu widmen, zählte die FOS 434 Schüler – mehr als doppelt so viele wie beim Debüt. Zum Ensemble ehemaliger Schüler gehören auch Audi-Chef Rupert Stadler und Matthias Müller, der Chef von Porsche.

Weil die Räume immer enger wurden, fragte Riederers Nachfolger Hermann Schießl 1972 in seiner Not bei der Stadt München an, ob er nach den Olympischen Spielen vielleicht "ein paar von den Baracken" aus dem Athletendorf haben könnte. Ob er je eine Antwort erhalten hat, ist nicht überliefert.

1981 zählte die FOS 750 Schüler, ein Jahr später 842. In dem Tempo ging es weiter. Damit stieg der Druck auf die Stadt, der sehr vermehrungsfreudigen Schulfamilie endlich eine eigene Heimat zu schenken.

Im Zuge der langsamen Wiederentdeckung des historischen Erbes der Schanz rückte die alte Flandernkaserne ins Blickfeld. Der als Lazarett konzipierte Komplex wurde von 1859 bis 1864 errichtete. Nach 1945 diente er als Notunterkunft. Mit den Möglichkeiten, die 20 Millionen Mark erlaubten, widmete sich der Architekt Erhard Fischer der Renaissance des Relikts. Am 1. Oktober 1986 war Richtfest, der Unterricht startete Anfang 1988. Das Werk nährte Fischers Ruhm (das ebenfalls von ihm geschaffene Schulzentrum Südwest dagegen eher weniger).

"Eine Zukunft für unsere Vergangenheit!", jubelte Stadtbaurat Klaus Goebl in der Festschrift. Die FOS "demonstriert das geglückte Einfügen moderner Anforderungen in ein vorhandenes Raumgefüge und veranschaulicht dabei die Redlichkeit des Denkens und Tuns."

Vielleicht haben das die Lehrer der FOS damals nicht ganz so poetisch gesehen wie Goebl. Sie freuten sich halt über ihre moderne Bildungsstätte, die eine Menge Raum für die weitere, ungebremste Expansion bot.

Gründungsdirektor Riederer glaubt die Grundformel dieses Erfolgs zu kennen: "Auch nach 40 Jahren halte ich die beruflichen Oberschulen für die ideale Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung." Erich Winter (nach Riederer, Schießl, Valentin Demmel und Jakob Schläfer der fünfte Chef des Hauses) ist "stolz darauf, dass die Nachfrage so groß ist", er weist aber darauf hin, dass die 1650 Schüler schon wieder Zusatzquartiere füllen, darunter Container. Immerhin meldet er jetzt "Entspannung auf hohem Niveau" – für die Ingolstädter FOS eine Entwicklung mit nahezu revolutionärer Tendenz.