Ingolstadt
Eine tödliche Mixtur

Reichertshofener Gewalttat: Gutachter sehen bei der Angeklagten Frustrationen und Alkohol als Katalysator

15.06.2015 | Stand 02.12.2020, 21:11 Uhr

Ingolstadt/Reichertshofen (DK) Persönlichkeitsstörung, widrige Lebensumstände mit gescheiterter Partnerschaft und Obdachlosigkeit – und dann noch Alkoholmissbrauch: Die Mixtur dieser Faktoren hat nach Auffassung des psychiatrischen Gutachters im Reichertshofener Totschlagsfall zum Gewaltexzess bei der 40-jährigen Angeklagten geführt.

 

Im Verfahren um den gewaltsamen Tod eines 51-jährigen Alkoholikers im Mai vorigen Jahres (DK berichtete wiederholt) standen gestern die Gutachten des Spurenanalytikers und der beiden Sachverständigen für die psychologischen und psychiatrischen Aspekte an. In einem Prozess mit solcher Tragweite ist für das Gericht zwar jedes Detail wichtig, mit Spannung war aber insbesondere die fachliche Würdigung der psychischen Verfassung der beschuldigten Frau erwartet worden. Wie berichtet, hatte der Gerichtsmediziner in der vorigen Woche bei der Angeklagten zum Tatzeitpunkt eine verminderte Steuerungsfähigkeit allein aufgrund ihrer starken Alkoholisierung ausgeschlossen.

Der Psychologe Günter Lauber (Neuburg) und der Psychiater und Neurologe Béla Serly (München) sehen die 40-jährige Kunsthistorikerin, die das Opfer mit Tritten, Schlägen und allem Anschein nach auch durch Stiche mit dem zackigen Stumpf eines abgebrochenen Weißbierglases traktiert haben soll, im Licht eines wohl schon seit Jugendjahren bestehenden Komplexes aus Minderwertigkeitsgefühlen, Verlassensängsten und unterdrückten Aggressionen. Sie selbst hatte im Prozess große Probleme im Elternhaus für ihre problematische Entwicklung (vormals Magersucht und zuletzt eben Alkoholsucht, Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit) verantwortlich gemacht.

Die weit überdurchschnittlich intelligente Frau (IQ von 126) ist nach Auffassung der Experten sehr dünnhäutig (geworden) und mental deshalb schnell aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie neige dann zu Missstimmungen, Wut und Rachegedanken, die sie angesichts ihrer intellektuellen Fähigkeiten allerdings nüchtern durchaus im Zaum halten könne – auch wenn das für sie sicher anstrengend sei. Psychiater Serly: „Ihr Leben ist ein Kampf.“

Erst durch den Katalysator Alkohol, so die Gutachter, kann die von der Angeklagten häufiger erlebte negative Gefühlsmischung aufgrund ihrer Persönlichkeitsstörung dann aber wirklich Brisanz entfalten. Beim Reichertshofener Tötungsdelikt seien wohl zu viele Faktoren zusammengekommen: Just zuvor hatte ihr damaliger Freund ihr offenbar erklärt, dass es keine gemeinsame Zukunft geben werde, ihren Platz in einer therapeutischen Wohneinrichtung in Ingolstadt hatte sie verloren, bei dem Reichertshofener Bekannten hatte sie sich offenbar kurzfristige Zuflucht erhofft, hatte dann aber – nach eigener Aussage – bei diesem plumpe sexuelle Annäherungsversuche erlebt. Unter dem Einfluss von (errechneten) rund zweieinhalb Promille Alkohol brannten dann womöglich bei der Frau alle Sicherungen durch.

Psychiater Serly sieht für die 40-Jährige eine potenzielle Rückfallgefahr, was Gewalthandlungen unter starkem Alkoholeinfluss angeht. Er empfahl für die Frau grundsätzlich einen strikten Alkoholentzug in einer geschlossenen Einrichtung und schloss aufgrund der Gemengelage aus Frustrationen und alkoholbedingter Enthemmung eine verminderte Steuerungsfähigkeit der Angeklagten zum Tatzeitpunkt nicht aus.

Die Analyse der Spuren durch einen Biomechaniker hat ergeben, dass die von der Beschuldigten geschilderte Situation, in der ihr Gastgeber aus Wut über sie ein Glas zerschlagen und damit auf sie losgegangen sein soll, so wohl nicht stattgefunden haben kann. Vielmehr deute einiges darauf hin, dass die Frau selber das Glas zerdeppert und dann als Waffe benutzt haben könnte. Der Prozess wird morgen fortgesetzt – vielleicht schon mit den Plädoyers.