Ingolstadt
Die Freiheit macht viel Arbeit

Wie sich Nazmiye Boz, die Vorsitzende der Ingolstädter Aleviten, in Deutschland behauptet hat

25.11.2016 | Stand 02.12.2020, 19:00 Uhr

Natürlich ohne Kopftuch: Bei den Aleviten, die Nazmiye Boz als Vorsitzende vertritt, beten und singen Frauen und Männer gemeinsam. Es gilt die Gleichberechtigung. - Foto: Eberl

Ingolstadt (DK) Im Januar bekam Nazmiye Boz einen Anruf vom türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Da war gerade der Vater der aus Ankara stammenden Ingolstädterin gestorben, und ihr früherer Studienkollege hatte von dem Todesfall erfahren. "Mevlüt war ein lieber Kerl", erzählt Boz, "sie sagen, dass er immer noch bodenständig geblieben ist."

Die 49-Jährige, die kürzlich zur Vorsitzenden der Alevitischen Gemeinde in Ingolstadt gewählt wurde, verspürt durchaus noch Sympathien für Cavusoglu. Nicht aber für das, was derzeit in der Türkei vor sich geht. "Ich hab' viel geweint", sagt sie, "als ich im Internet die Fotos von den geköpften jungen Soldaten gesehen habe. So eine Barbarei kannten wir bisher nicht. In meinem Herzen ist viel gestorben." Der Putschversuch und seine Folgen - sie beschäftigen Boz und mehr noch ihre Verwandten in der Türkei.

Die Familie stammt ursprünglich aus Persien, die Urgroßeltern wanderten in die Türkei ein. Nazmiye Boz wuchs in Ankara auf und kam 1988 nach Deutschland. Ihr türkischer Mann lebte und arbeitete in Ingolstadt. Dessen Familie sei ausgesprochen konservativ gewesen. Die neue Sprache lernen? Die Schwiegermutter fand das überflüssig für eine Frau. "Es reicht, wenn du im Supermarkt einkaufen kannst", habe sie als junge Ehefrau zu hören bekommen. "Dann habe ich heimlich einen Deutschkurs gemacht", berichtet die Mutter zweier Kinder, "das war schon ein sehr steiniger Weg."

Lernen, studieren, arbeiten, vorwärtskommen, sich engagieren - das ist ein Grundzug im Leben dieser Frau, die noch an der Universität in Ankara einen Bachelor-Abschluss "Internationale Beziehungen" erworben hatte, sich in Ingolstadt zur Kauffrau umschulen ließ und von 2010 bis 2012 - natürlich neben der Berufstätigkeit - an der Uni Eichstätt den Master in "Internationale Beziehungen" machte. Als sie in Eichstätt studierte, war sie schon von ihrem Ehemann geschieden. "Studieren in Deutschland, das war von Anfang an mein Traum. Ich war doppelt so alt wie die anderen Studenten. Ich musste so schnell wie möglich fertig werden." Von ihrer Tochter, die bei ihr lebt, stammt die einleuchtende Beschreibung: "Meine Mutter arbeitet immer."

Nazmiye Boz ist gern unter Menschen. Dazu hat sie reichlich Gelegenheit, da sie im Kundencenter der INVG in der Mauthstraße beschäftigt ist. "Die Arbeit macht mir Spaß. Ich habe ein Helfersyndrom, ich kann nicht zusehen, wenn es jemand schlecht geht." Gerade bei Beschwerden von Busfahrgästen müssen die Berater sich gut auskennen und möglichst viel Fingerspitzengefühl zeigen. Das fällt Boz nicht schwer, zumal sie sozusagen familiär vorbelastet ist, weil schon ihr Vater und mehrere Onkel als Busunternehmer tätig waren. Die Frau ist eigentlich in jeder Hinsicht ein Paradebeispiel für gelungene Integration. Doch was ihr bei allem Ehrgeiz, aller Strebsamkeit und guten Ausbildung noch immer nicht gelungen ist: einen unbefristeten Arbeitsvertrag zu bekommen. "Manchmal denkt man", gesteht Boz, "egal was man leistet, es bringt nix."

So gesehen ist die Vereinsarbeit bei den Aleviten ein guter Ausgleich für sie. Im Kulturzentrum an der Seeholzer Straße leitet sie schon seit 2014 die Frauengruppe, inzwischen ist sie die Vorsitzende der Gemeinde mit ihren über 200 Mitgliedern. In der Region Ingolstadt bekennen sich mehrere Tausend Menschen zum Glauben der Aleviten. "Freiheit für alle, Demokratie, Laizismus, Toleranz, Gleichberechtigung der Frauen", für diese Prinzipien tritt die Vorsitzende des Vereins mit ihrer ganzen Überzeugungskraft ein. Das sind sicher Ideale, die gemeinhin in Deutschland nicht unbedingt mit dem Islam in Verbindung gebracht werden.

"Gottes Liebe steht für uns im Vordergrund, nicht Furcht und Angst." Frauen und Männer sitzen und beten zusammen, es wird auch gesungen und getanzt. "Ob jemand fastet oder nicht", findet Boz, "geht niemand etwas an. Wir sind keine Missionare und haben keinen Machtanspruch."

Dass diese liberale Glaubensgemeinschaft unter dem autokratischen Präsidenten der Türkei keinen guten Stand hat, wird niemand verwundern. Eine gewisse Vorsicht ist trotz ihrer sonst so offenen Art aus den Worten von Nazmiye Boz herauszuhören, vor allem, wenn es um ihre Angehörigen geht, die noch in der Türkei leben. "Erdogan macht alles anders, als wir uns das wünschen."