Ingolstadt
Gewebte Erinnerung

Zeichen von Trauer und Protest: Deutsches Medizinhistorisches Museum zeigt Aids-Gedenktücher

02.12.2021 | Stand 23.09.2023, 22:06 Uhr
Im Zentrum der Sonderausstellung im Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt befindet sich der Aids-Quilt, genäht aus acht Gedenktüchern verstorbener Aids-Erkrankter aus den Niederlanden. −Foto: Brandl

Ingolstadt - "Alle Deutschen zum Zwangstest?

" Die Schlagzeile könnte gut in die aktuelle Zeit passen. Ins Jahr drei nach Corona. Sie stammt aber aus dem Jahr 1987. Damals titelt das eine bekannte Boulevardzeitung und setzt in großen Lettern darüber: "Aids - nächster Schlag". Das HIV-Virus hält die Welt gerade in Atem. Die Medizin indes ist noch weitgehend ohnmächtig ob der neuen Gefahr, die das menschliche Immunsystem zerstört.

Bayern beschließt zu jener Zeit eine harte Aids-Gesetzgebung, die es ermöglicht, "Ansteckungsverdächtige", wie es heißt, zum Test vorzuladen. Anderswo auf der Welt wird um die Toten getrauert, die das Virus dahingerafft hat. Ihnen zum Andenken weben und nähen Angehörige, Partner und Freunde sogenannte Aids-Quilts. Man könnte auch sagen: Sterbebildchen in Form von Gedenktüchern. Jedes davon misst exakt 1,80 auf 0,90 Meter. Auf so viel Platz passt eine ganze Lebensgeschichte - die von Marco Ex etwa, der Kartenspiele liebte und leicht wie ein Schmetterling durchs Leben flatterte, wie das liebevoll mit Symbolen ausgeschmückte Tuch zu erzählen scheint. Oder die von Ofra Haza, der israelischen Sängerin, die sich mit Ethno-Pop einen Namen machte. "Die Größe der Tücher war genormt", sagt Kurator Alois Unterkircher vom Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt (DMMI).

Acht solcher Decken ergeben zusammengenäht einen Quilt. Der Quilt mit der Nummer 21 ist im Sommer dem DMMI als Schenkung vom NAMEproject Nederland überlassen worden. Unterkircher hat um das Stoffbanner die Sonderausstellung "In The Name Of Love" zusammengestellt. Sie ist noch bis zum 13. März im Museum zu sehen. Bestandteil der Schau ist auch die Tageszeitung mit der sensationsheischenden Schlagzeile. Dazu Protestplakate der deutschen Schwulenbewegung, der amerikanischen ACT UP-Bewegung aus einer Privatsammlung, Bilder von Demonstrationen, vom Christopher Street Day, eine afrikanische Holzskulptur und die Ordenstracht der queeren Schwester Theresia Bavaria, Mitglied der Abtei Bavaria zur Glückseligkeit des Südens - einem Verein, der sich für Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Identitäten einsetzt.

Die Schau wolle nicht die Geschichte der medizinischen Aids-Forschung nacherzählen, so Unterkircher. Sie erzähle vielmehr vom Kampf um Toleranz und gegen das Vergessen, von tiefer Trauer und ungezähmter Wut. "Die gezeigten Exponate verleihen diesen widersprüchlichen Gefühlen, die der staatliche und gesellschaftliche Umgang mit Infizierten und Erkrankten bei vielen hervorrief, eine unmittelbare Sichtbarkeit", sagt er.

Quilts sind eigentlich eine Art gesteppter Patchworkdecken, die vor allem in England und Amerika eine lange Tradition haben. Sie wurden für den privaten Gebrauch angefertigt und für besondere Anlässe, wie eine Hochzeit oder Geburt. Die Aids-Quilts hingegen sind - neben ihrer Bedeutung als Erinnerung an die Verstorbenen - ein Zeichen des Protestes gegen eine gleichgültige Gesundheitspolitik sowie gegen die Diskriminierung von Menschen mit HIV und AIDS. Die Quilts wurden an öffentlichen Plätzen ausgelegt, bei Gedenkmärschen mitgetragen oder in Rathäusern aufgehängt. Das zeigt ein Videoeinspieler in der Schau. Sie setzten weiter der nüchternen AIDS-Statistik menschliche Einzelschicksale entgegen und riefen zum Mitgefühl mit den Erkrankten auf.

Die Ausstellung macht darüber hinaus deutlich, wie unterschiedlich Politik, Medizin und Zivilgesellschaft auf diese damals neuartige Krankheit reagierten. Gerade in der aktuellen Corona-Situation und vor dem Hintergrund des Welt-Aids-Tages, der am 1. Dezember begangen wurde, dokumentiert sie damit ein zugleich bemerkenswertes als auch aufrüttelndes Stück jüngerer Zeitgeschichte.

DK


Michael Brandl