Ingolstadt
Ein etwas anderer Blick auf Ingolstadt

Architekturstudenten der TU München befassen sich recht unkonventionell mit Bauwerken der Schanz

20.06.2018 | Stand 23.09.2023, 3:31 Uhr
Wo einst Bayerns Herzöge Hof hielten, zogen am Dienstag vier Architekturstudenten einen Fiat hinter sich her. Diese Performance im Hof des Neuen Schlosses entsprang der groß angelegten Lehrveranstaltung "Der doppelte Blick" der TU München. −Foto: Fotos: Haase, Silvesterf

Ingolstadt (DK) 160 angehende Architektinnen und Architekten der TU München erkunden dieser Tage Ingolstädter Baudenkmäler und erfüllen sie zugleich mit kreativen Aktionen wie Videoinstallationen oder Performances. Ein Ziel dieser außergewöhnlichen Lehrveranstaltung ist es, die analytischen Untersuchungen dieser Gebäude um künstlerische Betrachtungsweisen zu ergänzen. Dabei gewannen die Studierenden aus München auch Eindrücke, die alte Schanzer zu überraschen vermögen.

nDa bebt die Spitalkirche:

Techno hören sie im Technischen Rathaus vermutlich nicht so oft. Deshalb kommen einige Mitarbeiterinnen gleich neugierig-entnervt angelaufen, als ihre Behörde am Mittwochvormittag loveparademäßig-brachial zu wummern beginnt. 120 Schläge in der Minute erschüttern die Ingolstädter Bauverwaltung; sie übersteht aber auch diese Probe. "Wo kommt bloß der Krach her? Da werst ja narrisch, wir müssen hier schließlich arbeiten", klagt eine Verwaltungsfachangestellte kurz vor dem Ziel: der Lärmquelle. Die Techno-Beats hämmern im Dachstuhl der Spitalkirche Heilig Geist, die an das Technische Rathaus anschließt. Doch das fast 800 Jahre alte Gebälk steckt die Vibrationen locker weg - jedenfalls lockerer als die beiden Kolleginnen, die den stockdunklen Dachstuhl des gotischen Gotteshauses betreten. Immer noch dröhnt und stampft es hart Richtung Tinnitus. Da löst sich eine Gestalt aus der Finsternis und kommt (man erkennt es im Schein eines Smartphones) amüsiert lächelnd auf die Beschwerdeführerinnen zu. Es ist der Ingolstädter Fotograf Gert Schmidbauer. Er kann die spontane Techno-Kundgebung erklären: Kein Grund zur Aufregung! "Die Musik kommt von Architekturstudenten der Technischen Universität München. Die erkunden diese Woche unsere Stadt und wollen dabei Architektur und Kunst zusammenbringen. Ist gleich vorbei die Musik."

nAlles doppelt im Blick:

Schmidbauer begleitet die Studierenden und deren Professorin, die Bildende Künstlerin Tina Haase, auf ihrem Weg durch Ingolstadt. Der 76-Jährige (der dabei genauso viel Spaß hat wie die jungen Leute) führt die Gäste auf jeden Turm und jeden historischen Dachstuhl, den sie erforschen wollen. Das ist fast alles, was die Altstadt an architektonischen Preziosen zu bieten hat: St. Matthäus, Münster, Canisiuskonvikt, Hohe Schule, Tilly-Haus, Kreuztor, Georgianum, Moritzkirche, Reduit Tilly und weitere reiseführerrelevante Ziele. Überall analysieren die Studenten die Bauten zunächst streng baugeschichtlich. Sie fertigen nach Aufmaß Konstruktionszeichnungen, Schnitte und Detailpläne an; das muss man als Architekt draufhaben.

Dann spüren sie der Atmosphäre nach, die jeden Ort prägt, und überlegen sich, wie man das für ihn Charakteristische mit künstlerischen Aktionen hervorheben könnte. Die angehenden Architekten (die meisten studieren im vierten Semester) beschallen nicht nur die Spitalkirche, sondern illuminieren auch altes Gebälk mit Videoinstallationen, projizieren selbst gedrehte Kurzfilme auf Baudenkmäler oder bespielen sie mit amüsanten Performances. Immer zwei Gruppen (je Sechserteams) pro Station. Die einen zeichnen, derweil sich ihre Kommilitonen künstlerisch mit der Immobilie befassen. Nach drei Tagen tauschen sie die Aufgaben.

Die 160 jungen Leute verbringen eine an Impressionen reiche Woche in Ingolstadt. Sie zelten am Auwaldsee (sicher auch ein Erlebnis). Nächstes Jahr kommen sie wieder. Dann wird weitergezeichnet und mit künstlerischem Anspruch gezaubert.

"Der doppelte Blick" heißt dieses Kooperationsprojekt des Lehrstuhls für Baugeschichte, Historische Bauforschung und Denkmalpflege (Prof. Manfred Schuller) und des Lehrstuhls für Bildende Kunst (Prof. Tina Haase) an der Fakultät für Architektur der TU München. "Der doppelte Blick ermöglicht es, ein und dasselbe Objekt aus zwei unterschiedlichen Blickrichtungen zu betrachten", so das Konzept. Denn ein Architekt muss mehr als ein reiner Konstrukteur sein. Er braucht auch Sensibilität für Formensprache und Gespür für die Atmosphäre eines Ortes, an dem sein Bauwerk entsteht. Deshalb werden angehende Architekten in der Bildenden Kunst geschult.

nTanz', altes Haus:

Die Hohe Schule, die erste Universität Bayerns, eingeweiht 1472, ginge auch als Museum für solide deutsche Zimmermannskunst durch, denn das Gebälk ist eine Schau: mächtig und kunstvoll zugleich. "Die Dimension dieses Dachstuhls hat uns so beeindruckt, dass wir die Idee zu unserer Videoinstallation hatten", erzählt die Studentin Sarah Sendzek. Ihr Team schickte eine Kamera an einer Wäscheleine auf eine meterlange Reise durch die Balken, die mehrere Etagen hoch begehbar sind. So entstanden rasante Aufnahmen mit wilden Schwenks quer durch das Holzbauensemble. Volle Kante rauf und runter. Das TU-Team hat daraus ein zweieinhalbminütiges Video geschnitten und mit Filmmusik unterlegt (dem Soundtrack von "The Dressmaker"). Mit einem Beamer projizieren sie das Werk streng vertikal nach oben auf die Unterseite einer Holzplattform. Perlende Musik und wirbelnde Bilder erzeugen im Zwielicht der weitläufigen Dachkonstruktion einen fremdartig-betörenden Effekt. "Das war wirklich ein Tanz mit dem Haus!", sagt Tina Haase, als die Lichter wieder angehen. Die Show ist aber noch nicht vorbei. Auch im Georgianum, in der Franziskanerkirche oder an der Stadtmauer haben sich die kreativen Besucher einiges einfallen lassen, um den Geist dieser Orte symbolisch darzustellen.

nVom ästhetischen Reiz des Modehauses Mayr: Vier Studenten warten in exponierter Position auf das Zwölfuhrläuten in St. Moritz: im Turm, direkt vor den Glocken. Sie wollen mit Lichttechnik die Vibration des Schalls veranschaulichen. Unten sitzen der Student Lucas Habermeyer und seine Kommilitonin Maike Steidler im Schatten. Sie zeichnen den Turm des ältesten Bauwerks in Ingolstadt. "Wir finden es toll, hier zu allem Zugang zu bekommen und überall rauf zu dürfen", erzählt Maike. Das Donauufer gefällt ihr besonders. "Das hat schon eine hohe Erholungsqualität." Lucas hätte es "nie gedacht, dass es in Ingolstadt so viel Historisches gibt!" Das sagen eigentlich immer alle, die diese Stadt bis dato nur von der A9 aus kannten.

Gegenüber der Moritzkirche grüßt die Rückseite des Modehauses Mayr mit seinem für die 1960er-Jahre typischen Waschbetoncharme. Schlimm? "Gar nicht!", sagt Maike Steidler. "Der Kontrast ist spannend." Und sie zeigt: Hier die alte Kirche, dort der Nachkriegsbau und durch die Pfarrgasse ist die historisierte Fassade des Ickstatt-Hauses zu sehen. Was für ein optischer Dreiklang. "Die Blickwinkel in der Stadt können sich ändern", erklärt die Studentin. Sie sollen es auch, "sonst wird es monoton". Außerdem gelte: "Jede Zeit hat ihren Baustil, das ist Teil der Geschichte einer Stadt." Was also auch für den Xaver Mayr gilt.

nZugverkehr im Schlosshof: Die Hingabe an einen Ort kann sogar zu dessen symbolischer Dekonstruktion führen. "Gestern haben Studenten ein Auto durch den Schlosshof gezogen", erzählt Tina Haase. "Damit wollten sie die ursprüngliche Funktion dieses Platzes, also Herrschaftsrepräsentation und Militärparaden, konterkarieren."

Autos, die gezogen werden! In Ingolstadt! Was für eine Symbolik. Es war wohl besser, dass das niemand von der Technischen Hochschule gleich hinter dem Neuen Schloss gesehen hat. Studierende mit Hang zu ironisch-intellektuellen Performances kennt man bei uns ja nicht so.

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Christian Silvester